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Andreas Mayer ordnet Kinderkuraufenthalte der Nachkriegszeit aus entwicklungspsychologischer Sicht ein

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Prof. Dr. Andreas Mayer, Foto: privat

„Unvorbereitete längere Trennungen im Kindesalter würde man aus heutiger Sicht sicher kritisch sehen und zu vermeiden versuchen“, sagt Prof. Dr. Andreas Mayer. Der Psychologe hat sich mit der Wirkung der Kinderverschickung in Form von Erholungsaufenthalten auf die Entwicklung der Kinder befasst. Er ist Experte für Entwicklungspsychologie und klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters.

Zwischen Ende der 1940er und den 1980er Jahren wurden mehrere Millionen Kinder in Kindererholungsheime gegeben. „Viele erlitten in diesem Zusammenhang strukturelle, körperliche und psychische, einige auch sexualisierte Gewalt; diese Erlebnisse prägten und belasteten viele von ihnen nachhaltig“, schreibt das Landesarchiv Baden-Württemberg. Seit 2012 befasst es sich mit der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen in der baden-württembergischen Nachkriegszeit. Aufbauend auf der dadurch gewonnenen Expertise hat das Landesarchiv im Mai 2022 das Projekt Kinderverschickung Baden-Württemberg eingerichtet.

Mayer: „Wie Kinder Trennungen erleben und verarbeiten, hängt sehr stark von ihrem Alter ab – und natürlich auch davon, wer während der Trennung an ihrer Seite steht und wie einfühlsam das Kind dabei begleitet wird, eine Trennung zu überstehen. Man muss also unterscheiden zwischen den Folgen einer längeren Trennung an sich, und den Folgen von dem, was während der Trennung geschieht beziehungsweise nicht geschieht“.

Der Psychologe ist der Auffassung, dass eine Trennung von sechs Wochen vor allem für Kinder unter drei bis vier Jahren viel zu lang sei. Kinder in diesem jungen Alter könnten das „innere Bild“ der Bezugsperson, zum Beispiel der Eltern, noch nicht lange genug in sich lebendig halten, um eine so lange Trennung gut zu überstehen. Die Trennung fühle sich in diesen jungen Jahren wie ein völliger Verlust an. Mayer: „Es kann sein, dass die eigenen Eltern nach solch einer Trennung nicht wiedererkannt werden.“

Andreas Mayer geht davon aus, dass diese Zeit der Trennung in Erwachsenen fortlebt und nachwirkt, auch wenn keine bewussten Erinnerungen vorhanden sind. Für ihn führte das Verbot in vielen Heimen beispielsweise Heimweh zu zeigen, zu weinen, zu gravierenden psychologischen Folgen. Das Einnässen könne ein Beispiel für eine schwere psychische Folge, ein Hinweis auf eine große seelische Not sein, für die das Kind keinen anderen Ausdruck finden konnte oder durfte.

„Erfahrungen von Demütigung, Gewalt und Lieblosigkeit können sich in verschiedenen Gestalten später im Leben zeigen, zum Beispiel in Träumen, in diffusen Gefühlen von Leere, Verlassenheit, Ohnmacht, Angst, Traurigkeit oder auch Wut“, erklärt Mayer.

 

Die Texpassagen sind dem Interview mit Prof. Dr. Andreas Mayer, Professor für Psychologie, mit LEO BW – Landesarchiv Baden-Württemberg, entnommen. Die Fragen stellten Johanna Weiler und Corinna Keunecke.

Das vollständige Interview ist hier online.

Mehr Info

„Bis Herbst 2024 werden neue Texte zum Thema Kinderverschickung eingestellt, die es von verschiedenen Seiten beleuchten“, so das Landesarchiv auf seiner Website. Es soll Porträts von Kinderkureinrichtungen, Zeitzeugenberichte, Texte zum Alltag in den Einrichtungen, Informationen zu medizinischen und pädagogischen Hintergründen der Verschickung sowie Texte dazu geben, wo und wie das Thema aktuell aufgearbeitet wird. Die Erfahrungen und Lebensbedingungen der „Verschickungskinder“ wieder so wieder sichtbar.

Zur Person

Prof. Dr. Andreas Mayer

  • Professur für Psychologie; Beauftragter für Studierende mit Behinderung/ chronischer Erkrankung
  • Andreas Mayer arbeitet zu Fragen der Entwicklungspsychologie und klinischen Psychologie des Kindes- und Jugendalters unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, psychoanalytischer und hermeneutisch-phänomenologischer Ansätze.
  • Ein weiterer Schwerpunkt ist die kulturvergleichende Perspektive auf psychische Entwicklungsprozesse und psychologische Theorienbildung.
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