Es antwortet Helen Breit, Professorin für Wissenschaft Soziale Arbeit. Sie ist überzeugt, dass das Zeugnisverweigerungsrecht elementar für die Soziale Arbeit – und längst überfällig ist. Auch unser Rechtsstaat und unsere Demokratie würden davon profitieren.
Schauen wir kurz zurück: Im Oktober 2024 wurden Mitarbeitende des Fanprojekts Karlsruhe in einer zweitägigen Verhandlung vor dem Amtsgericht wegen versuchter Strafvereitelung in 21 Fällen zu je 90 Tagessätzen verurteilt. Der Fall geht in die nächsthöhere Instanz. Fanprojektmitarbeitende hatten der ermittelnden Staatsanwaltschaft die Informationen über ihre Adressat*innen, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Sozialarbeitende gewonnen haben, nicht mitgeteilt. Sie haben also die Vertrauensgrundlage ihrer alltäglichen Arbeit höher gewichtet als mögliche persönliche Folgen. Wären sie beispielsweise Psychotherapeut*innen gewesen, hätten sie eine Zeugenaussage verweigern können. Sozialarbeitende haben jedoch nur in der Drogenhilfe und Schwangerschaftskonfliktberatung ein Zeugnisverweigerungsrecht. Seither wird in der Fachcommunity wieder verstärkt über die Notwendigkeit eines Zeugnisverweigerungsrechts für Sozialarbeitende debattiert. Weil sich dieser Fall im Fußballkontext ereignet und unter anderem große Reaktionen in den Fanszenen hervorgerufen hat, hatte auch das Fußballmagazin „Kicker“ darüber geschrieben. Das hat dem Thema eine große Öffentlichkeit weit über die Soziale Arbeit hinaus eingebracht.
Anm. der Redaktion vom 28.10.2025:
Inzwischen fand am 16.10.2025 die Verhandlung vor dem Landgericht Karlsruhe statt, „mit einem überraschenden Ausgang“, sagt Helen Breit. Sie besuchte mit Studierenden der Sozialen Arbeit von der Evangelischen Hochschule Freiburg die öffentliche Gerichtsverhandlung.
Das Verfahren endete mit einer Einstellung nach §153a StGB. Das heißt: Die Angeklagten müssen einen festgesetzten Geldbetrag an eine spezifische gemeinnützige Einrichtung bezahlen und das Verfahren ist mit dieser Entscheidung abgeschlossen.
Helen Breit: „Der Richter verwies in seiner Einordnung darauf, dass das Strafrecht keinen Vergleich vorsehe, eine Einstellung nach §153a StGB komme für ihn einem solchen Vergleich am nächsten. In seinen einleitenden Worten vor Eröffnung der Verhandlung griff er das Dilemma eines fehlenden Zeugnisverweigerungsrechts für Sozialarbeitende auf und verwies darauf, dass dieses – solange der Gesetzgeber nicht die entsprechende Rechtsgrundlage schaffe – mit ausreichend Fingerspitzengefühl von den betroffenen Akteuren vor Ort, z.B. Polizei, Staatsanwaltschaft, Soziale Arbeit, gelöst werden müsse. Und nicht vor Gericht in solchen Verfahren. Den betroffenen Fanprojektmitarbeiter*innen war es ein deutliches Anliegen darauf hinzuweisen, dass die Zustimmung zur Einstellung kein Schuldeingeständnis sei.“
Dabei ist es nicht der erste Fall dieser Art; das „Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit“dokumentiert die Fälle intern. Sozialarbeitende sind in unterschiedlichen Handlungsfeldern betroffen: von Opferberatungsstellen über Hilfen zur Erziehung bis zur Wohnungslosenhilfe. Bisher gibt es keine systematische Erfassung von Situationen, in denen Sozialarbeitende Zeugenaussagen ablehnen, um ihre Arbeit nicht zu beschädigen.
Soziale Arbeit findet meist unter dem Radar der Öffentlichkeit statt, so dass diese Problematik kaum bekannt ist. Und das, obwohl Sozialarbeitende Themen bearbeiten, die für die Gesellschaft hochrelevant sind, die sie zusammenhält. Nun rütteln die Schicksale dieser Mitarbeitenden im Fanprojekt auf: In keinem anderen Beruf geht man das Risiko ein, durch berufliches Handeln privat einen massiven Schaden wie Geld- oder Gefängnisstrafe, aber auch einen hohen Reputationsverlust davonzutragen.
Wir brauchen das Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit. Es schützt das Vertrauen zwischen Klient*innen und Sozialarbeitenden als Arbeitsgrundlage von Sozialer Arbeit, denn Sozialarbeitende bauen professionell Beziehungen zu ihren Klient*innen auf und gestalten sie. Durch diese vertrauensvollen Arbeitsbeziehungen und -bündnisse können sie erst in ihrer Arbeit wirksam werden. Warum also haben wir das Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeitende nicht längst?
Ich erlebe immer wieder, dass zum Beispiel Akteur*innen in der Politik nicht gegenwärtig ist, was Soziale Arbeit heute ist, wie sie organisiert und strukturiert ist, wie umfassend das Studium ist, das erst zu einer Tätigkeit in der Sozialen Arbeit qualifiziert.
Die Menschen aus dem „Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit“ vermitteln deshalb berufsfremden Personen die Realität in der Sozialen Arbeit. Jedoch spiegelt die Antwort der vorherigen Bundesregierung auf die Kleine Anfrage zum Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit von Dezember 2023 die vielfältigen und großen Entwicklungen in der Sozialen Arbeit seit den 70er-Jahren keineswegs wider. Wichtige Stichworte sind hier Akademisierung und Diversifizierung. Soziale Arbeit hat sich als wissenschaftliche Disziplin entwickelt, der staatliche Auftrag hat sich stark ausgeweitet und die Anforderungen an Sozialarbeitende sind komplexer geworden.
Statt an einer aktualisierten Einschätzung orientiert sich auch die frühere Bundesregierung an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1972. Das Gericht kam damals zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, ein Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeitende in die Strafprozessordnung aufzunehmen. Eine Begründung war, dass das Berufsbild noch nicht klar umrissen sei und innerberufliche Kontrollinstanzen fehlen würden. Doch auch schon damals wurde der Gesetzgeber auf den Spielraum hingewiesen, die Grundlage für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit zu schaffen.
Heute ist das Berufsbild klar umrissen, jedoch ist der Wirkungsbereich von Sozialer Arbeit vielseitig und komplex. Wenn ich Ärztin bin – oder Arzt, dann können sich alle etwas darunter vorstellen. Bei Sozialer Arbeit ist es anders: Viele Menschen haben keine Berührung mit ihr, sie kennen weder ihre Tätigkeitsfelder noch die notwendigen Rahmenbedingungen. Hier ist also auch noch viel zu tun, mehr Information, mehr Hintergrundwissen zu vermitteln, vor allem darüber, wie elementar Vertrauen und Vertrauensschutz sind.
Dabei muss Soziale Arbeit für ihre Adressat*innen in kritischer Weise Partei ergreifen, ohne dabei andere gesellschaftliche Erwartungen auszublenden.
Aus meiner Sicht kann das Fehlen des Zeugnisverweigerungsrechts auch so gedeutet werden, dass der Gesetzgeber unterstellt, Soziale Arbeit könne nicht verantwortungsvoll mit diesem Recht umgehen.
In der Sozialen Arbeit gibt es klassisch ein Doppelmandat, der gesellschaftliche Auftrag ist immer Hilfe und Kontrolle zugleich. Das bedeutet – verkürzt gesagt –, dass Sozialer Arbeit einerseits die Aufgabe zukommt, Menschen entlang ihrer Hilfebedarfe zu unterstützen und zu begleiten, und andererseits auch gesetzliche Vorgaben und gesellschaftliche Erwartungen zu berücksichtigen. Beispielsweise bei Kindeswohlgefährdungen den Schutz von Menschen oder etwa bei Straffälligkeit eine zukünftig deliktfreie Lebensführung zu ermöglichen. Dabei muss Soziale Arbeit für ihre Adressat*innen in kritischer Weise Partei ergreifen, ohne dabei andere gesellschaftliche Erwartungen auszublenden. Soziale Arbeit setzt mit den Hilfs- und Unterstützungsleistungen bei den Individuen an und weiß zugleich darum, dass individuelle Problemlagen häufig gesellschaftlich bedingt sind. Für Soziale Arbeit ist es konstitutiv, in diesen hier angedeuteten und in vielen weiteren Spannungsfeldern zu arbeiten. Genau diese Balance zu halten, sie immer wieder auszutarieren und Widersprüche auszuhalten, ist ein Kern professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit.
Würde Soziale Arbeit über ein Zeugnisverweigerungsrecht verfügen, würde sie sich auch mit diesem in diesen Spannungsfeldern bewegen: Ihr würde gesetzlich das Recht zugestanden werden, abzuwägen, wann eine Zeugenaussage angemessen wäre und wann sie dem gesellschaftlichen Auftrag der Hilfe entgegenstehen würde. Ich bin mir sicher, dass Soziale Arbeit dieses weitere Spannungsfeld genauso umsichtig bearbeiten würde, wie es bei den vielen anderen bisher der Fall ist.

Mit Blick auf den Themenschwerpunkt dieses Magazins würde ich betonen: Sozialarbeitende stützen und schützen durch ihre Arbeit mit ihren Klient*innen – ebenso wie beispielsweise Jurist*innen den Rechtsstaat und die Demokratie.
Beide Professionen arbeiten jedoch mit unterschiedlichen Mitteln. Gelegentlich begegnet mir der Vorwurf, dass Sozialarbeitende mit einem Zeugnisverweigerungsrecht potenziell Täter*innen schützen würden. Das verkennt das professionelle Handeln im eben thematisierten Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle, reduziert die Debatte auf einzelne Fallkonstellationen und suggeriert, dass Sozialarbeitende, wenn sie mit einem Zeugnisverweigerungsrecht ausgestattet wären, keine Aussagen mehr machen würden. Doch es geht nicht um eine Schweigepflicht vor Gericht. Es geht darum, in Einzelfällen Aussagen verweigern zu dürfen – ein entscheidender Unterschied. Ein Zeugnisverweigerungsrecht für die Soziale Arbeit wäre kein Verlust potenzieller Zeug*innen für den Staat, sondern im Gegenteil ein Gewinn. Weil die Soziale Arbeit hierdurch als gesellschaftliche Akteurin über andere Wege Menschen in ihrer Lebensführung unterstützen kann, etwa mit Blick auf Gemeinschaftsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt
Wir müssen dieses Thema auf allen Ebenen platzieren, dort, wo Soziale Arbeit tätig ist, in der Politik, in der Gesellschaft insgesamt.
Wann also kommt das Zeugnisverweigerungsrecht?
Um den Prozess seiner Einführung zu beschleunigen, brauchen wir die Vertreter*innen der etablierten Professionen, etwa Jurist*innen, Pfarrpersonen und Ärzt*innen an unserer Seite, die bereits das Zeugnisverweigerungsrecht haben und die erkennen, dass es für die Soziale Arbeit ebenfalls notwendig ist, damit alle – jeder Berufszweig mit seiner Zuständigkeit und Professionalität – dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft möglichst gut und gerecht funktioniert.
Wir müssen dieses Thema auf allen Ebenen platzieren, dort, wo Soziale Arbeit tätig ist, in der Politik, in der Gesellschaft insgesamt. An unserer Hochschule können wir einiges dazu beitragen und den Diskurs im Studium der Sozialen Arbeit sowie in den lokalen, regionalen und bundesweiten Netzwerken und Arbeitsgemeinschaften vorantreiben. Ich selbst bearbeite dieses Thema derzeit vorwiegend in der Verschränkung mit dem „Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht für Soziale Arbeit“.
Wichtig wären auch Ressourcen für ein Forschungsprojekt, das die Konsequenzen des fehlenden Zeugnisverweigerungsrechts für Sozialarbeitende, für deren Klient*innen und für die Gesellschaft untersucht. Dann könnten Forschungsergebnisse in Verbindung mit Fachargumenten und Erfahrungen überzeugen und die Tür für die notwendige Reform weiter aufstoßen.
Protokoll: Imke Rötger

