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Björn Kraus und Hans Thiersch diskutieren Recht auf die eigene Wahrheit

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Prof. Dr. Björn Kraus; Foto: Marc Doradzillo

Die Professoren Hans Thiersch und Björn Kraus haben 2022 in einem hochschulöffentlichen Wissenschaftsgespräch unter Beteiligung von Studierenden der Sozialen Arbeit diskutiert, ob es ein Recht auf die eigene Wahrheit geben könne und wie Soziale Arbeit darauf reagieren solle.

Björn Kraus und Hans Thiersch führen seit 2014 die Reihe der Freiburger Wissenschaftsgespräche an der Hochschule durch; einige der Gespräche gibt es als Videocast. Das mehrstündige Gespräch vom 3. Juni 2022 wurde ebenfalls aufgezeichnet und wird aktuell bearbeitet. Sobald das Video online zur Verfügung steht, wird hier auf dieser Website dazu informiert.

Das Recht auf eine eigene Meinung haben alle – aber gibt es auch ein Recht auf eine eigene Wahrheit?

„In den letzten Jahren hat die Zahl der vertretenen Positionen mit Wahrheitsanspruch unübersichtlich zugenommen“, stellte Björn Kraus fest. Jede*r scheint ein Recht auf eine eigene Wahrheit in Anspruch zu nehmen – und es erscheint kaum noch möglich, die vielfältigen Wahrheiten auch zu bewerten. Doch was stimmt nun? Die Professoren Thiersch und Kraus setzten sich mit der Frage auseinander, ob man ein Recht auf seine eigene Wahrheit hat und wie es möglich ist, mit den vielfältigen Wahrheitsansprüchen umzugehen. Lebensweltorientierte und konstruktivistische Ansätze scheinen hier vor besonderen Herausforderungen zu stehen. Denn in der Sozialen Arbeit folgen aus Lebensweltorientierung und Konstruktivismus die Aufwertung der Perspektive der Menschen und eine grundlegende Skepsis gegenüber Wahrheitsansprüchen.

Zunächst entfaltete Björn Kraus Überlegungen zu der Frage nach den Beurteilungsmöglichkeiten von Wahrheitsansprüchen. Wie schon in der Veranstaltung von 2017 betonte er, dass es auch konstruktivistisch möglich sei, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Dabei, so Kraus, „gilt als Lüge eine Aussage, die dem eigenen für wahr halten widerspricht“. Zur Annäherung an den Wahrheitsbegriff skizzierte er Korrespondenztheorie, Konsenstheorie und Kohärenztheorie der Wahrheit und verdeutlichte, wie auch konstruktivistisch zwischen Lüge, Irrtum, Täuschung und Wahrheit unterschieden werden könne. „Auch wenn es keine korrespondenztheoretische Wahrheit geben kann, ist es möglich zu begründen, wann eine Aussage als konsens- und/oder kohärenztheoretisch wahr gelten soll“, erklärte Professor Kraus. (*)

Hans Thiersch schloss sich der Argumentation an und diskutierte die Risiken von einerseits zu wenig Kritik an nicht begründbaren Wahrheitsansprüchen und andererseits zu wenig Interesse an den Gründen für teilweise abenteuerliche Erzählungen mit Wahrheitsanspruch. Gerade Soziale Arbeit, so Professor Thiersch, habe die methodischen Kompetenzen und auch den Auftrag, sich an den Perspektiven der Menschen zu orientieren und diese im Rahmen des Möglichen zu verstehen. „Fachkräfte der Sozialen Arbeit müssen sich auch auf Perspektiven einlassen, die sie weder für moralisch gut, noch für logisch richtig halten“, betonte er.

In der anschließenden Diskussion waren sich die beiden Wissenschaftler darin einig, dass für eine professionelle Praxis die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Wahrheitsansprüchen notwendig sei – sowohl verstehend als auch kritisierend. Kraus und Thiersch betonten auch, dass gerade angesichts dieser gesellschaftlichen Herausforderungen Soziale Arbeit sich wieder ihres Bildungsauftrags besinnen müsse, wie überhaupt gesamtgesellschaftlich Bildung viel stärker als bislang in den Fokus genommen werden solle.

Bildung sei dabei ausdrücklich nicht als Beschäftigungsfähigkeit zu verstehen, erklärten die beiden Professoren, sondern im Sinne der Aufklärung als „Befähigung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“. Hierzu habe Kant schon ausgeführt, brauche es neben dem Willen dies zu tun, auch die Fertigkeit. Zu dieser müsse es auch gehören, dass Menschen im Laufe ihrer Biographie in die Lage versetzt würden, die Plausibilität und Qualität von Aussagen zu beurteilen. Dass es hier Herausforderungen gibt, werde daran deutlich, dass es momentan in den sozialen Medien so scheine, als hätten beliebige Aussagen, die auf reiner Vorstellungskraft oder nicht belegtem „Hörensagen“ basieren, die gleiche Relevanz wie Aussagen, die auf systematisch und nachvollziehbar erhobenen Grundlagen basierten.

Zudem sei es wichtig, dass Debatten über vertretene Positionen geführt würden, ohne damit die Menschen anzugreifen, die diese Positionen vertreten. „Hier stehen wir vor der Herausforderung wieder zu einer gleichermaßen kritischen, wie wertschätzenden Diskussionskultur zu gelangen. Denn auch wenn es kein Recht auf eine eigene Wahrheit geben kann, das Recht auf eine eigene Meinung ist im verfassungsrechtlichen Rahmen vorhanden und sich für andere Meinungen zu interessieren, ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit“, fasst Björn Kraus zusammen.

(*) Vgl. hierzu: https://www.socialnet.de/

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