Wenn Erwachsene die Grenzen von Kindern verletzen, geschieht das oft unbewusst in stressigen Situationen. Ein neues Präventionsprogramm will Kinder für ihre Rechte sensibilisieren und sie darin stärken, sich im Kita-Alltag gemeinsam gegen verletzendes Verhalten zu wehren. Maike Rönnau-Böse erklärt das stark partizipative Forschungsdesign.
Kurzprofil des Forschungsprojekts
- Titel: Traut Euch! Ein Kinderkoffergegen Gewalt
- Projektleitung: Prof.in Dr.in Maike Rönnau-Böse, Prof.in Dr.in Dörte Weltzien. Zentrum für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ) im Forschungs- und Innovationsverbund FIVE an der EH Freiburg e. V.
- Kooperation: Prof.in Dr.in Rieke Hoffer, Hochschule Koblenz; weitere Projektbeteiligte: Stiftung Universität Hildesheim, Hochschule Fulda, Europäische Fachhochschule Rhein / Erft GmbH, Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e. V. (Projektorganisationsstelle)
- Laufzeit: 10/2021 bis 12/2023
- Auftraggeber: Verband Krankenversicherung(PKV)
Früher hätten wir zum Beispiel vorab Materialien entwickelt und diese im Rahmen der Forschung zusammen mit den Kindern ausprobiert. Jetzt gestalten Kinder aus 20 bis 25 Kitas das Projekt wirklich von Anfang an mit.
Ziel und Forschungsdesign
Ziel: Kinder sollen mit vielfältigen Methoden, Impulsen und Aktivitäten ermutigt werden, erfahrene, erlebte und beobachtete Gewalt nicht hinzunehmen, sondern sich als selbstwirksam zu erleben und es zu wagen, sich gegen verletzendes Verhalten zu wehren.
Hintergrund: Alltägliche, oftmals subtile Gewalt gegen Kinder und der damit einhergehende Missbrauch von Macht in pädagogischen Settings der Kindertagesbetreuung ist noch weitgehend tabuisiert. (Grenz-)verletzendes Verhalten von Fachkräften entsteht insbesondere in herausfordernden, stressigen Situationen. Dazu zählt körperliche, verbale oder psychische Gewaltausübung wie Bevorzugung, Ausgrenzung, Zum-Essen-Zwingen oder beschämende Kommentare. Bis jetzt wurde dieses Thema kaum untersucht. „Traut euch! Ein Kinderkoffer gegen Gewalt“ ist ein Teilmodul des Gesamtprojekts „Entwicklung eines Setting-Programms zur Förderung der Gewaltprävention in Kindertagesstätten“. Das Vorhaben wurde durch die Bundesrahmenempfehlung zum Präventionsgesetz initiiert und beinhaltet vier Module: Organisations- und Teambegleitung mit Supervision, Schulung pädagogischer Fachkräfte, die Stärkung der Kinder sowie zusätzlich eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation.
Forschungsdesign: Das Projekt umfasst eine formative Evaluation. In der Entwicklungsphase werden dafür verschiedene qualitative Erhebungsinstrumente eingesetzt (z. B. Gruppendiskussionen, dialoggestützte Interviews, Kitaführungen, eine Ideenwerkstatt). Diese Instrumente dienen nicht nur der Evaluation, sondern sind auch Methoden, die in den Alltag der Kindertageseinrichtungen implementiert werden können: als neue, partizipative Kommunikationsformen. Die Ergebnisse werden fortlaufend vorwiegend inhaltsanalytisch ausgewertet und den Kindern kontinuierlich zurückgespiegelt.
Frau Rönnau-Böse, Sie haben sich bei der Entwicklung des Methodenkoffers für ein stark partizipatives Forschungsdesign entschieden. Warum? Das ergibt sich aus dem Forschungsgegenstand: Wenn man von Kinderrechten und Kinderschutz spricht, geht es immer auch darum, die Kinder zu „empowern“ und ihre Selbstwirksamkeit zu stärken. Resilienz entwickelt sich durch Partizipationsprozesse. Und das setzt eben voraus, nicht über die Kinder zu reden und etwas für sie zu tun, sondern sie selbst gestalten zu lassen.
Der partizipative Forschungsprozess ist also gleichzeitig schon eine Methode, um Kinder stark zu machen? Genau. Wir kommen nicht mit einem fertigen Methodenkoffer, sondern die Kinder entwickeln das Projekt gemeinsam mit den Fachkräften in den Kitas sowie mit unseren wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und mit einer Illustratorin. Diese zeichnet die Ideen der Kinder und spiegelt das Gezeichnete immer wieder zurück: „Stimmt es so? Soll ich was verändern?“ Die Kinder sagen, was sie gut finden und was sie sich vorstellen können. So entstehen Figuren, die für das Projekt leitend sind. Die Kinder erleben dadurch, dass ihre Stimmen gehört werden und ganz plastisch Form annehmen.
Ist diese Art der Forschung neu? Partizipative Forschungsansätze gibt es schon seit einigen Jahren, aber sie werden nur sehr punktuell umgesetzt. Insofern ist ein so ergebnisoffener Prozess schon eher neu, ja. Früher hätten wir zum Beispiel vorab Materialien entwickelt und diese im Rahmen der Forschung zusammen mit den Kindern ausprobiert. Jetzt gestalten Kinder aus 20 bis 25 Kitas das Projekt wirklich von Anfang an mit. Es kann also passieren, dass wir am Ende nicht einen, sondern zwanzig Methodenkoffer haben. Die Kinder dürfen auch jedes Mal neu entscheiden, ob sie mitmachen. Darauf legen wir großen Wert.
Entwickeln Sie auch die Methode an sich weiter? Ja, wir nutzen dieses Projekt auch, um die Entwicklungen auf der Metaebene performativ zu evaluieren, also zu schauen: Was kommt an, was nicht? Was müssen wir im Prozess verändern, um unsere Ziele zu erreichen? Was brauchen die Kinder, um weitere Schritte zu entwickeln? Denn darum geht es: Kinder nicht nur dafür zu sensibilisieren, was Gewalt im Alltag ist, sondern sie auch in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken und erfahren zu lassen, dass man zusammen stark ist.
(Rebekka Sommer)