Mit ihren Studiengängen für Kindheitspädagogik treibt die EH Freiburg seit gut 20 Jahren die Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften zum Beispiel in Kitas ebenso wie in Forschung und Lehre voran. Dörte Weltzien ist Professorin für Kindheitspädagogik und Co-Leiterin des Forschungsinstituts Zentrum für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ). Hier spricht sie über gesellschaftliche Erwartungen an ihre noch relativ junge Disziplin, die Bedeutung von hochwertiger Qualifikation und die Bedingungen für gutes Aufwachsen.
ev.olve: Frau Weltzien, Sie haben vor rund 20 Jahren die ersten Studiengänge für Kindheitspädagogik ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?
Dörte Weltzien: Die EH Freiburg gehört zu den ersten Hochschulen in Deutschland, die zunächst einen Bachelor- und wenige Jahre später einen Master-Studiengang in diesem Bereich angeboten haben. Zuvor gab es nur die Erzieher*innenausbildung und sozialpädagogische Studiengänge mit einer Art „Breitbandqualifizierung“, frühe Bildung kam hier lediglich am Rande vor. Unser Ziel war es, die Kindheitspädagogik als neue, eigenständige Disziplin zu entwickeln und das Feld mit Spitzenkräften zu besetzen.
Warum brauchte es eine Akademisierung der Disziplin? Zugespitzt: Was ist „falsch“ an der Ausbildung für Erzieher*innen? Falsch ist daran gar nichts. Der wesentliche Unterschied – das zeigen Studien zu den Kompetenzen von Fach- und Hochschulabsolvent*innen – liegt in den formalen, methodisch kontrollierten Reflexionskompetenzen. In unserer Disziplin müssen wir uns immer wieder fragen: Wie gestalte ich die Beziehung mit jedem einzelnen Kind? Was weiß ich von diesem Kind und seiner Familie? Nur so bekomme ich einen verstehenden Zugang und kann passgenaue Angebote machen. Frühe Bildung hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension: Fast jedes Kind in Deutschland verbringt drei und mehr Jahre in Kindertageseinrichtungen, und Familien haben meist ein hohes Vertrauen in die Arbeit der Fachkräfte. Das ist eine große Chance für gesellschaftliche Teilhabe: für Kinder und Familien. Unsere Absolvent*innen der kindheitspädagogischen Studiengänge bereiten wir auf diese verantwortungsvolle Aufgabe vor.
Der Master-Studiengang Bildung und Erziehung im Kindesalter wurde gerade zum dritten Mal akkreditiert. Was zeichnet diesen Studiengang aus? Unser Studiengang ist forschungsorientiert, die Studierenden beteiligen sich an den Forschungsprojekten unseres Zentrums für Kinder- und Jugendforschung. Sie können sich mit einem Studienschwerpunkt spezialisieren oder seit kurzem auch berufsbegleitend studieren. Dafür haben wir das Studium umorganisiert, beispielsweise gibt es jetzt dreitägige Blockseminare. Das ist für uns eine Herausforderung, aber für die Studierenden ein großer Vorteil: Viele sind bereits im Beruf, haben Familie, wohnen nicht in Freiburg.
Frühe Bildung hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension.
In der Professionalisierung der Kindheitspädagogik spiegelt sich gesellschaftlicher Wandel: Früher waren Kitas ja noch primär Spiel- und Bastelorte, der Schwerpunkt lag auf der Betreuung. Wie kommt es, dass man die frühkindliche Bindung und Bildung heute gesellschaftlich so ernst nimmt, Kitas inzwischen als Bildungseinrichtungen begreift? Ich bin 1969 in einen westdeutschen Kindergarten gegangen, das war eine nette Spielgruppe. Da ist man vielleicht zwei, drei Stunden am Vormittag hingegangen, aber das hat niemanden richtig interessiert. Krippen waren so gut wie unbekannt, die Mütter waren selten berufstätig. In Ostdeutschland war das anders, Kinder kamen meist ab dem dritten Monat in die Krippe, oft ganztags. 2000 kam dann der PISA-Schock: Deutsche Schüler*innen lagen beim internationalen Leistungsvergleich nur im Mittelfeld, was überhaupt nicht dem deutschen Selbstbild entsprach. Daraus entstand die Forderung, die frühe Bildung zu stärken.
Ziel der Kita ist es also, dass die Kinder später bessere Mathenoten bekommen, Fähigkeiten erlernen, die ihnen später auf dem Arbeitsmarkt etwas bringen? Was die frühe Bildung auszeichnet, ist der Blick auf das einzelne Kind, seine individuelle Entwicklung. Kitas bilden die Gesellschaft ab und somit auch ihre Herausforderungen. Zugespitzt gibt es zwei Fraktionen: Die einen sagen, frühes Lernen und Vorläuferkompetenzen in der Kita als Vorbereitung auf die Schule sind wichtig, für andere gehört Wohlbefinden, Resilienz und Beziehung dazu. Natürlich ist beides relevant – und das ist auch wissenschaftlich belegt. Interaktions- und Beziehungsgestaltung findet ja nicht im luftleeren Raum statt. Die Kinder suchen immer nach Möglichkeiten, Neues zu entdecken, ihre Theorien weiterzuentwickeln, sich in jeder Hinsicht auszuprobieren – und genau das ist Bildung. Forschung und Lehre an der EH Freiburg – mit ihrem Profil als SAGE-Hochschule – haben zum Ziel, Bedingungen für ein gelingendes, gutes Aufwachsen zu erforschen und herzustellen. Hier liegt auch die Nähe zur Sozialen Arbeit, die zum Beispiel Demokratiefähigkeit und Integration fördert.
Kinder haben Rechte. Ein Recht auf Spiel und Lernen, auch das Recht auf Beteiligung und Schutz.
Welche frühe Bildung halten Sie für wichtig? Das „Wie“ ist wichtiger als das „Was“: Ziehe ich meine Angebote durch, obwohl ich Kinder mit Vermeidungstendenzen gar nicht erreiche? Oder bin ich motiviert, gemeinsam mit den Kindern etwas zu entdecken? Vor allem gilt: Kinder haben Rechte. Ein Recht auf Spiel und Lernen, auch das Recht auf Beteiligung und Schutz. Sehr wichtig ist, dass Kinder sehr früh das lernen, was unsere Gesellschaft ausmacht – dazu gehört auch die Sprache. Das hat mit Inklusion zu tun, mit Chancengerechtigkeit, mit gesellschaftlicher Fairness und mit ethischen Aspekten. Es darf nicht passieren, dass immer mehr Menschen gesellschaftlich ausgeschlossen sind, dass wir Kinder schon im ganz frühen Alter verlieren, und damit aber gesellschaftlich große Folgeprobleme für sie und ihre Familien riskieren. Dagegen setzen wir die frühe Bildung und mit ihr die Förderung von Resilienz und ebenso Prävention.
Wir machen Sie jetzt mal zur Weltpräsidentin, die per Dekret optimale Rahmenbedingungen schaffen kann. Welche Veränderungen stoßen Sie an? Wir wissen genau, wie viele Kinder auf eine Fachkraft kommen dürfen: Der Personalschlüssel sollte 1:3 bei den 1- bis 3-jährigen Kindern beziehungsweise bei 1:7,5 bei Kindern von drei Jahren bis zur Einschulung liegen. Je nach Personalschlüssel der einzelnen Bundesländer ist das Verhältnis aktuell teilweise doppelt so hoch. Das würde ich sofort ändern. Dann würde ich unbedingt die Gruppengrößen verkleinern: Es nützt nichts, wenn in einem Raum 25 Kinder sind und schließlich eine zusätzliche Fachkraft kommt – dadurch wird es nur noch voller und lauter. Zudem würde ich vorschreiben, dass mindestens zehn Prozent der Fachkräfte eines Teams akademisch qualifiziert sein müssen und dafür ausgebildet sind, ergänzende Aufgaben zu erfüllen – etwa im Bereich Vernetzung mit dem Sozialraum, in der Präventionsarbeit oder Familienberatung. Grundsätzlich sollten 20 bis 25 Prozent der Arbeitszeit für die sogenannte mittelbare pädagogische Arbeitszeit, also die Vor- und Nachbereitung, reserviert sein. Ich würde Ressourcen anders verteilen: Kitas oder Familienzentren an Standorten mit einem hohen Problemdruck in den Familien und entsprechend großem Unterstützungsbedarf würde ich mehr Ressourcen geben. Denn Chancengerechtigkeit, Demokratieverständnis und gesellschaftliche Teilhabe werden ganz konkret in der alltäglichen Praxis von Vielfalt und Inklusion gefördert, und dafür braucht es kompetente Fachkräfte und vor allem mehr Zeit.
Viele unserer Studierenden, ob mit Bachelor- oder Masterabschluss, bekommen schon Stellenangebote, während sie noch im Seminar sitzen.
Wie argumentieren Sie für die Mindestquote an Akademiker*innen? Wir haben mehr Alleinerziehende, mehr Eltern, die berufstätig sind, mehr Familien mit besonderen Herausforderungen. Und wir haben den Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kita für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Das alles führt zu einem riesigen Bedarf an Kitaplätzen. Gleichzeitig heißt das, dass Kitas noch mehr leisten müssen: Gesellschaftliche Veränderungen bis zu Konflikten spiegeln sich in der Kita wider und die Fachkräfte brauchen Kompetenzen, damit umzugehen. Wir wissen aus der Forschung, wie wichtig frühe, qualitativ hochwertige Beziehungserfahrungen sind. Die Lösung kann also nicht sein, mehr ungelernte Kräfte zu holen – irgendwen, Hauptsache erwachsen und mit einem Führungszeugnis. Was wir brauchen, sind mehr gut ausgebildete Fachkräfte. Leitungsstellen können derzeit oft kaum besetzt werden, weil das ein enorm fordernder, anspruchsvoller Job ist, bei dem Führungskompetenzen erwartet werden, für die Erzieher*innen gar nicht ausgebildet sind. Unsere Absolvent*innen kommen qualifiziert, kompetent und gerüstet mit vielen guten Ideen ins Feld. Wenn sie bei uns den Master studieren, geben sie anschließend ihr Wissen weiter, zum Beispiel als Fachschullehrkräfte in der Ausbildung von Erzieher*innen. Dadurch verändert sich viel – nicht nur in der Kita.
Heißt das, die Perspektiven für die Freiburger Kindheitspädagog*innen sind gut? Viele unserer Studierenden, ob mit Bachelor- oder Masterabschluss, bekommen schon Stellenangebote, während sie noch im Seminar sitzen. Nach dem Studium arbeiten sie dann in der offenen oder stationären Kinder- und Jugendhilfe, aber auch im Bereich der Ganztagsschulen, in der Schulsozialarbeit oder in Jugendämtern. Mit den neuen Fachkräften entstehen außerdem neue Berufsfelder. Träger schauen sich die Kompetenzen der Absolvent*innen an und schaffen entsprechende Schlüsselstellen – zum Beispiel zu Inklusion, Sozialraumvernetzung und Kooperation mit Grundschulen. So eine Fachkraft bietet über ihren täglichen pädagogischen Dienst hinaus dann Teamschulungen oder Elternberatung an, dies hat positive Ausstrahlungseffekte in das System der frühen Bildung hinein. Für unsere Absolvent*innen sind solche Stellen sehr attraktiv, denn dort können sie mit Kindern zusammenarbeiten und bekommen Ressourcen für Zusatzaufgaben, die die Qualität der Einrichtungen voranbringen.
Interview: Nora Lessing, Fotos: Marc Doradzillo
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- zur Person Prof.in Dr.in Dörte Weltzien
- News: Dörte Weltzien hat bundesweit erste Studiengänge der Kindheitspädagogik mit aufgebaut
- Artikel im Hochschulmagazin ev.olve: Traut Euch! Ein Kinderkoffer gegen Gewalt
- Magazin ev.olve #05, ‚Werkzeuge‘ als Pdf zum Download