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Mein Weg: Gunda Wössner

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Im März 2023 wurde Gunda Wössner auf die Professur für Allgemeine Psychologie und Klinische Psychologie berufen. Sie bringt viel Erfahrung in der Forschung über Täter*innen und Opfer von Straftaten mit. Wir zeichnen nach, wie sie ihr Profil entwickelt hat.

Als unser Gespräch stattfindet, ist Gunda Wössner gerade erst wieder in Freiburg angekommen. Anderthalb Wochen war die Professorin für Allgemeine Psychologie und Klinische Psychologie in Griechenland unterwegs, mit einer Delegation des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT). Sie besuchte Polizeidienststellen, Abschiebegewahrsame, Auffanglager an den Grenzen der Europäischen Union, auf den Inseln im Mittelmeer und an der sogenannten Balkanroute. Eine anstrengende Reise mit einer anspruchsvollen Aufgabe. Die Delegation prüft, wie Menschen behandelt werden, denen in solchen Einrichtungen ihre Freiheit entzogen wird. Für Gunda Wössner ist es vor allem „ein großes Privileg, diese Arbeit machen zu dürfen“. Vor drei Jahren ist die Psychologin als einziges deutsches Mitglied in das europäische Gremium gewählt worden, die Bewerbung um eine weitere Mandatszeit kann sie sich gut vorstellen.

Es sind höchst aktuelle Erkenntnisse, die Gunda Wössner an die EH Freiburg mitbringt: von solchen Reisen, aus ihrer langjährigen Forschung über den Strafvollzug in Deutschland und aus den zahlreichen anderen Gremien und Beiräten, in denen ihre Expertise bei Politiker*innen und Praktiker*innen gefragt ist. Dieses Wissen lässt sie unmittelbar in ihre Lehre einfließen.

Das Thema Straffälligenhilfe etwa ist ein fester Bestandteil des Studiums der Sozialen Arbeit. „Ich merke, dass die Studierenden großes Interesse daran haben, wenn man von eigenen Erfahrungen spricht und die jeweiligen Umstände gut kennt“, sagt Gunda Wössner rückblickend auf die ersten beiden Semester nach ihrer Berufung im März 2023. Für das Modul „Vielfalt“ konzipierte sie ein Seminar, das sich mit Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen von Straftäter*innen und Betroffenen von Straftaten auseinandersetzt.

Es ist ein großes Privileg, diese Arbeit machen zu dürfen.

Gunda Wössner

Wössner ist eine von wenigen Expert*innen, die sich um einen ganzheitlichen Blick auf Straftaten bemühen. Die meisten beschäftigen sich entweder ausschließlich mit der Täter*innen- oder der Opferperspektive. Gunda Wössner erforscht nicht nur die Folgen von Gewalt und kriminellem Verhalten, sondern auch die Ursachen. Sie sagt, dass diese zum Beispiel Folgen hegemonialer Männlichkeitsstrukturen sein können. Viele Täter*innen hätten zudem psychische Probleme, die auf eigene Viktimisierungserfahrungen zurückzuführen sein können. Es sei deshalb notwendig, diese umfassend und individuell zu analysieren. Im Gefängnis schreibt sich das oft fort: Täter*innen können dort erneut Opfer werden, von gewalttätigen Mithäftlingen oder von Vertreter*innen des Gefängnissystems – das machen nicht nur die Berichte des CPT deutlich. Das bedrückende System befördere weitere Straftaten.

Seit langem beschäftigt sich Wössner auch damit, wie Resozialisierung gelingen kann. Sie hat Zweifel, dass dies in Verbindung mit Strafe funktioniert: „Natürlich müssen wir auf schwere Straftaten reagieren. Aber ich bin mittlerweile überzeugt, dass das gesamte System von Strafe und Resozialisierung grundlegend neu gedacht werden muss.“

Als langjährige Projektleiterin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht hat Gunda Wössner nicht nur zur Behandlung von Straftäter*innen geforscht, sie begleitete auch alternative Sanktionen – wie elektronische Fußfesseln oder Hausarrest – wissenschaftlich, ebenso verschiedene Wege des Täter-Opfer-Ausgleichs. Nicht zuletzt sind ihr Fragen des Opferschutzes und viktimologische Aspekte wichtig, etwa welche Folgen es für Frauen und Kinder hat, wenn sie Opfer von Gewalt- oder Sexualverbrechen werden.

Wer sich die vielfältige Expertise von Gunda Wössner und ihren Werdegang ansieht, kann den Eindruck bekommen, dass sie ihre Karriereplanung sehr fokussiert und zielstrebig angegangen sein muss. Doch sie selbst erinnert sich an Momente der Unsicherheit während ihres Psychologiestudiums an der Universität Freiburg: „Alle Kommiliton*innen schienen ihr Ziel klar vor Augen zu haben: therapeutische Praxis, Erziehungsberatung, Arbeits- und Organisationspsychologie. Doch mich interessierte so vieles, dass ich mich nicht entscheiden konnte, welche Richtung ich einschlagen sollte.“

Nach ihrem Diplom war es zunächst ein Impuls von außen, der die Richtung vorgab. Familiäre Gründe führten sie in die USA. Schon damals hatte Wössner ein Lebensmotto, das ihr half, ihren Weg zu gehen: „Ich versuche immer, das Beste aus meiner Situation zu machen.“ Zudem war es der jungen Psychologin wichtig, beruflich dranzubleiben – trotz oder geradewegen ihrer zwei Kinder. Flexibilität also und Durchhaltevermögen. Sie machte ein Praktikum am Psychiatric Institute of Washington, einem Akutkrankenhaus für Menschen mit psychischen Erkrankungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Substanzmissbrauch. „Dort hatte ich vor allem mit jugendlichen Betroffenen von Gewalt zu tun. Etliche waren traumatisiert und wurden selbst sehr gewalttätig. Ich habe einen Blick für solche Verknüpfungen entwickelt, der meine Perspektive bis heute prägt.“

Auch ihr Interesse an Klinischer Psychologie wurde in Washington neu entfacht. Bereits während des Studiums hatte Gunda Wössner als studentische Hilfskraft am damaligen Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht gearbeitet. Zurück in Deutschland nahm sie den Kontakt wieder auf und wurde dort Doktorandin. 2006 promovierte sie schließlich an der Universität Freiburg über verschiedene Ansätze zur Behandlung von Sexualstraftäter*innen.

Natürlich müssen wir auf schwere Straftaten reagieren. Aber ich bin mittlerweile überzeugt, dass das gesamte System von Strafe und Resozialisierung grundlegend neu gedacht werden muss.

Gunda Wössner

Nicht nur der Umgang mit Sexualstraftäter*innen ist ein Thema, zu dem sie von Medien oft als Expertin angefragtwird. Auch ihre Expertise zur Wirkung von Strafe ist gefragt, zu Gefängnissen, Resozialisierung und Rückfallquoten. „Auftritte in den Medien sind mir eher unangenehm“, räumt Gunda Wössner ein. „Aber ich hoffe, dass ich damit zu einer aufgeklärten Meinungsbildung beitragen kann. Ich finde, das gehört genauso zur Aufgabe von Wissenschaftler*innen wie Forschung und Lehre.“ Zwar gibt es seit längerem einen regelrechten Hype um „True Crime“, bei dem sich das Publikum intensiv auf „echte“ Straftäter*innen und ihre Motive einlässt. „Aber worum geht es dabei? Oft wird damit nur Sensationsinteresse bedient.“

Aus der Zeit vor ihrer Berufung hat Wössner einige laufende Forschungsprojekte zu diesem Thema mitgebracht, die sie an der EH Freiburg zu Ende führt. Weitere Projekte hat sie gemeinsam mit den neuen Kolleg*innen und externen Partner*innen bereits angestoßen. Mit Enthusiasmus widmet sie sich seit ihrer Berufung der neuen interreligiösen Weiterbildung „Seelsorge im Justizvollzug“. Sie ist das erste Angebot in Deutschland, das Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit für die Seelsorge in Gefängnissen qualifiziert.

Wenn man so will, macht auch die Polizei eine Art Sozialarbeit. Denn sie kümmert sich um das Gemeinwesen.

Gunda Wössner

Ruft man sich in Erinnerung, dass Gunda Wössner im Studium die Sorge hatte, sie sei zu vielseitig interessiert, um ihren Weg zu finden, kann man heute wohl sagen: Sie hat ihre Interessenvielfalt genutzt, um sich ihr eigenes Forschungsfeld zu schaffen. Ihre Arbeit ist geprägt von einer Diversität der psychologischen Themen, Akteur*innen, Orte und Wirkungsfelder. Gunda Wössner bringt ihre Erfahrung aus der psychotherapeutischen Tätigkeit in universitären Einrichtungen in Münster und Freiburg ein.

Anknüpfungspunkte gibt es auch aus ihrer Zeit als Professorin an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen: „Wenn man so will, macht auch die Polizei eine Art Sozialarbeit. Denn sie kümmert sich um das Gemeinwesen.“ An der EH Freiburg könne sie nun alle Interessen zusammenführen: „Ich genieße die Vielfalt der Tätigkeiten hier, mit tollen Kolleg*innen und Studierenden. Meine Entscheidung, hier eine Professur anzutreten, macht mich sehr glücklich.“

(Stefanie Hardick)

Alle Fotos: Marc Doradzillo

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