Politik und Gesellschaft brauchen Koordinaten und ganz konkrete Vorschläge, um Entscheidungen zu treffen – weil sich Berufs- und Lebenswelten verändern, weil die Vernetzung die Welt komplexer und erklärungsbedürftiger macht, weil Interessen und Möglichkeiten klug abgewogen werden müssen. An der EH Freiburg ist dieser Transfergedanke besonders wichtig: Das Gestalten des Sozialen ist ihr Auftrag, also das Verbessern von Lebenslagen in unserer Gesellschaft. Die Wissenschaftler*innen bringen sich auch außerhalb der Hochschule ein – durch Aktivitäten, die über Forschung und Lehre hinausgehen: Third Mission.
Der Text, den Sie hier gerade lesen, steht nicht von ungefähr in einem „Magazin über Wissenschaft, die Gesellschaft verändert“. Der Slogan, den sich ev.olve auf die Titelseite geschrieben hat, ist geboren aus dem Selbstverständnis der EH Freiburg als Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW). Rektorin Renate Kirchhoff fasst diesen Aspekt des Profils, der sich auch im Leitbild wiederfindet, so zusammen: „Unsere Hochschullehrenden tragen mit ihren Forschungsaktivitäten, ihrer Mitwirkung in Dach- und Fachverbänden, ihremTransfer, ihrer Politikberatung und ihren Praxiskooperationen national und international dazu bei, dass Gesellschaften sich weiterentwickeln.“ Der Deutsche Wissenschaftsrat hat im Rahmen der institutionellen Akkreditierung „die zahlreichen nationalen sowie internationalen Kooperationen mit hochschulischen und außerhochschulischen Einrichtungen“ positiv herausgestellt. Sie kommen nicht allein den Studiengängen und damit den Lehrenden und Studierenden zugute. Es geht dabei auch um den Austausch mit der Praxis, Politik und Verwaltung auf den Ebenen Stadt, Land und Bund. Weil die EH Freiburg eine HAW in Trägerschaft der Evangelischen Landeskirche in Baden ist, gehören dazu ebenso kirchliche Partner wie Caritas, Diakonie oder Brot für die Welt.
Was heißt das alles für die Menschen, die hier lehren und forschen und darüber hinaus als Wissenschaftler*innen mit der Gesellschaft in Wechselwirkung treten? Das wollte auch die EH Freiburg wissen. Deshalb hat sie ihre Dozierenden im Winter 2023 befragt: 27 von insgesamt 35 haben an einer Online-Befragung zu Aktivitäten im Bereich Third Mission teilgenommen. Dazu zählen Weiterbildung, Transfer und gesellschaftliches Engagement, beispielsweise Workshops mit Praktiker*innen, Veröffentlichungen für ein breites Publikum und Vereinsarbeit. Vier von fünf Befragten waren 2021 bis 2023 in irgendeiner Form mit Third Mission beschäftigt. „Formalisierte Aktivitäten wissenschaftlicher Beratung zur Unterstützung wissenschaftsbasierter Entscheidungen“ gehörten für 70 Prozent der Befragten zum Alltag. Der Bericht konkretisiert: „Dies zeigt sich zumeist durch gutachterliche Funktionen, Teilnahme an Arbeitskreisen und Verfassen von Stellungnahmen (zum Beispiel für das Bundesverfassungsgericht, Kultusministerien auf Länderebene, die EKD oder in Form von Positionspapieren), Angebote an Expert*innen-Workshops von Bundesministerien, Aktivitäten in Fachgesellschaften wie DGSA (Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit) und DGfE (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft) oder Beratung von NGOs.“ Einige Dozierende sind außerdem Mitglied in Expert*innengruppen und moderieren zum Beispiel Fachgespräche oder Ausschüsse.
Was ich tue, kann die Lebenssituation vieler Menschen verbessern.
Transfer gehört zum Selbstverständnis wissenschaftlichen Arbeitens
Sind Third Mission und Transfer lästige Aufgaben, die sich aus der Rechenschaftspflicht gegenüber Geldgebern und Förderpartnern ergeben – oder sind sie eine Chance, die Wissenschaftler*innen bereitwillig annehmen, vielleicht sogar aktiv suchen? Während sich keine Institution, insbesondere keine Hochschule für Angewandte Wissenschaften, gern nachsagen lässt, den berüchtigten Elfenbeinturm zu repräsentieren, kommt es individuell immer auf die Gesamtsituation an. Deshalb findet sich unter den Rückmeldungen auch die ehrliche Antwort „Dafür finde ich kaum Zeit“. Eine andere Problemlage war: „Während ich eine wissenschaftliche Karriere aufbaue, ist es schwierig, mich groß um Third Mission zu kümmern.“ Leichter dürfte es denjenigen fallen, die sich schon als Expert*innen etabliert haben und gezielt von außen angefragt werden. Für die meisten Befragten gehört der Transfer-Gedanke zum Selbstverständnis des wissenschaftlichen Arbeitens. Eine Aussage, die im Rahmen der Befragung viel Zustimmung fand, lautete: „Gesellschaftliches Engagement gehört zu meiner Grundauffassung von Bildung und Wissenschaft“ – was ja einer Unterschrift unter das Hochschulprofil gleichkommt. Eine mehrmals genannte Begründung für Third-Mission-Aktivitäten fasst der Bericht so zusammen: „Es motiviert mich, das Gefühl zu haben: Was ich tue, kann die Lebenssituation vieler Menschen verbessern.“
Gesellschaftliches Engagement gehört zu meiner Grundauffassung von Bildung und Wissenschaft.
Politische Gremienarbeit: Pro und Contra
Ist die außerhochschulische Gremienarbeit, auf die wir hier ein Schlaglicht werfen, demnach ein Zeichen für überdurchschnittliches Engagement? Oder ist sie schlicht ein Teil des Jobs, der Vernetzung und fachlichen Austausch braucht? Gegen die Gremien spricht: Solche Arbeit frisst Zeit und Energie, die vielleicht für Forschung und Lehre fehlen. Mit Fachfremden außerhalb des Hochschul-Kosmos in einer Kommission oder einem Rat zu sitzen, drückt Wissenschaftler*innen zum Teil in neue, ungeübte Rollen. Sie werden zu Sprachrohren für die eigene Disziplin oder die Wissenschaft per se, was manche Akademiker*innen als unangenehm empfinden. Die bloße Mitarbeit in einem Gremium kann sie in die Schusslinie politischer Grabenkämpfe bringen. Das passiert nicht nur Klimaforscher*innen oder Virenspezialist*innen, das hat auch Isabelle Ihring, Professorin für Jugend und Soziale Arbeit, als Expert*in für Rassismus schon erlebt, als der neue Antirassismusrat der Bundesregierung zum Objekt rechter Medienkampagnen wurde. Und dann ist da noch die Sache mit den enttäuschten Erwartungen: Einige Gremien haben sich in der Vergangenheit als reines Feigenblatt entpuppt, mit dem der Unwille zu tatsächlicher Veränderung kaschiert werden sollte.
Die Pro-Argumente scheinen jedoch zu überwiegen: Der Kontakt zu Menschen und Gruppen außerhalb der eigenen Profession und Fachblase kann zu wertvollem Austausch und hilfreicher Vernetzung führen. Und die HAW-Professor*innen bringen hierfür sehr gute Voraussetzungen mit: Sie kommen aus der Praxis, haben mehrjährige Berufserfahrung außerhalb von Hochschulen – und bringen ihre bisherige Vernetzung mit in die Hochschuleein. Die eigene Forschung bekommt durch Austausch einen fruchtbaren Realitätscheck und das steigert ihre Qualität. Das trägt dazu bei, dass Wissenschaft international und interdisziplinär anschlussfähig wird.
Wissenschaftler*innen, die sich als politische Menschen verstehen, können Veränderungen besser anstoßen und mitgestalten, wenn sie mit Entscheider*innen und Multiplikator*innen ins Gespräch kommen. Dafür sind persönliche Begegnungen außerhalb der Hochschule, trotz Zoom und Co., immer noch zentral. Ein Landesbeirat hat vielleicht nicht die Reichweite eines Youtube-Videos oder eines Talkshow-Auftritts, aber dafür versammelt er möglicherweise genau das richtige Publikum. Entscheidungs- und Orientierungshilfe von berufener Stelle ist immer gefragt, aus allen Fachbereichen. Allein zum politischen Berlin gehören 150 bis 200 feste Expert*innen-Gremien. Und das ist nur die Bundesebene. Ein Beispiel für den Austausch im Regionalen ist die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Freiburg, in der sich Wilhelm Schwendemann, Professor für Evangelische Theologie, Schul- und Religionspädagogik, als geschäftsführender Vorsitzender einbringt. Für Bildungspolitik und damit zusammenhängende Erkenntnisse ist der Austausch auf Landesebene wichtig. Dorothee Gutknecht, Professorin für Kindheitspädagogik, sitzt im Expertenrat „Sprachförderung an der Schnittstelle Kindertageseinrichtung-Grundschule“, der ans Kultusministerium in Baden-Württemberg angedocktist. Georg Wagensommer, der schon länger im Fachverband evangelischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer aktivi st, einem Forum der badischen Landeskirche, wurde 2023 in den baden-württembergischen Landesschulbeirat berufen.
Kluge Köpfe kommen so richtig in Fahrt, wenn sie Lösungen für ganz neue Herausforderungen austüfteln, die im wirklichen Leben greifen.
Hinzu kommt die internationale Ebene. Gunda Wössner, Professorin für Allgemeine Psychologie und Klinische Psychologie, ist das einzige deutsche Mitglied im Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Dirk Oesselmann, Beauftragter für Internationalisierung an der EH Freiburg, ist Vorsitzender im Unterausschuss Theologische Ausbildung der Evangelischen Mission Weltweit und wird seit 2015 zur Konferenz Diakonie und Entwicklung des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung eingeladen, die für die Arbeit der NGO Brot für die Welt von großer Bedeutung ist. Berthold Dietz, Professor für Soziologie, stärkt den Vorstand der INAS, der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Sozialmanagement und Sozialwirtschaft, die in ihren Themenfeldern die Vernetzung von Lehre und Bildung, Wissenschaft und Forschung fördert. Ein Output: Der INAS-Kongress 2025 findet an der Evangelischen Hochschule Freiburg statt. Spezialist*innen sind überall und immer eine wertvolle Unterstützung: in vorbereitenden Phasen, begleitend oder als kritische Instanz der Nachbetrachtung wie beim „Gute-KiTa-Gesetz“. Zumal sich der Wissensstand stetig ändert und kluge Köpfe so richtig in Fahrt kommen, wenn sie Lösungen für ganz neue Herausforderungen austüfteln, die im wirklichen Leben greifen.
Georg Wagensommer – Professor für Religionspädagogik, im Landesschulbeirat von Baden-Württemberg
„Der Landesschulbeirat war das erste Beratungsgremium des Kultusministeriums, letztes Jahr wurde das 50-jährige Jubiläum begangen. Ich bin erstmals dabei, als einer von zwei Köpfen für die HAW in Baden-Württemberg: Andrea Dietzsch von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg ist die Erstberufene, ich bin ihr Stellvertreter. Berufen wurden wir und die anderen für die Amtsperiode August 2023 bis Juli 2026. Meine Tätigkeit ist – wie die aller Mitglieder seit jeher – ehrenamtlich. Das Gremium berät das Kultusministerium zur grundsätzlichen Ausrichtung des Schulwesens, macht Vorschläge und regt zu Reformen an. Geeignete Mitglieder kommen aus den Hochschulleitungen oder sind Professor*innen, die sich besonders mit dem Übergang von der Schule zur Hochschule auskennen. Aufgrund meines Profils kann ich hier gute Impulse einbringen. In den Sitzungen in Stuttgart erarbeiten wir Stellungnahmen verschiedenster Art: zu Schulgesetzänderungen, zur Schulartenentwicklung und zur Bildungsplanarbeit, zu Erlassen, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, geplanten Verwaltungsreformen und Personalentwicklungskonzepten. Wir verfassen auch spezielle Arbeitspapiere zu Grundschulen, Gemeinschaftsschulen oder Gymnasien. Die differenzierten Perspektiven, die der Beirat zur Bildungsarbeit einnimmt, sind für das Kultusministeriumwert voll. Die Studiengänge der EH Freiburg profitieren von diesen Verbindungen in die Politik und Praxis und vom Austausch im Gremium.
Isabelle Ihring – Professorin für Soziale Arbeit und Expertin für Rassismus und Kolonialismus, im Expert*innen-Rat Antirassismus der Bundesregierung
„Der Expert*innen-Rat Antirassismus wurde im Juni 2023 ins Leben gerufen. Staatsministerin Reem Alabali-Radovan hatdie Mitglieder als Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus berufen. Von unserer Arbeit erhoffe ich mir, dass wir deutlich machen können: Rassismus ist ein strukturelles Problem mit einer jahrhundertealten Geschichte. Die Idee der weißen Überlegenheit hat ihre Ursprünge im Kolonialismus und wirkt bis heute macht- und gewaltvoll nach. Im Dezember 2023 haben wir aus ganz Deutschland Menschen aus Migrant*innenorganisationen und Betroffeneninitiativen zu einem Hearing eingeladen. Wir wollten erfahren, wo und wie sie Rassismus in der Verwaltung erleben, ob es Gesetze, Verfahren und Prozesse gibt, die aus ihrer Sicht rassistische Effekte entfalten. Solche Perspektiven fließen in unsere Arbeit ein, zum Beispiel in eine Definition von institutionellem Rassismus, die Verwaltungen dann nutzen können. Außerdem arbeiten wir an Indikatoren für eine kritische Überprüfung der politischen Maßnahmen gegen Rassismus und an Empfehlungen für zukünftige Initiativen und Gesetze.“
Dirk Oesselmann – Professor für Religionspädagogik und Beauftragter für Internationalisierung, im Unterausschuss Theologische Ausbildung der Evangelischen Mission Weltweit (EMW)
„Das Gremium tagt zweimal im Jahr. Dabei werden 15 bis 20 Projektanträge zur finanziellen Unterstützung theologisch-ökumenischer Bildungseinrichtungen im Globalen Süden besprochen und entschieden. Außerdem diskutieren wir allgemeine Tendenzen in Kirchen weltweit. Seit 2022 bin ich der Vorsitzende. Ich gehöre diesem Ausschuss allerdings schon seit 2016 an und bringe meine Expertise in der ökumenischen theologisch-diakonischen Bildung und Erfahrungen aus Lateinamerika ein. Für die EH Freiburg ist das Gremium wichtig, weil wir darüber Kontakte zu internationalen Ausbildungseinrichtungen herstellen können, die für den zukünftigen Bachelor-Studiengang Religion und Soziales in internationalen und interkulturellen Kontexten von grundlegender Bedeutung sind. Wertvoll ist auch der direkte Draht zum Bereich ,Ecumenical Theological Education‘ vom Ökumenischen Rat der Kirchen.“
(Dirk Nordhoff)