Unser Hochschul-Newsletter – jetzt anmelden!

Werturteilsstreit 3.0: Wie normativ kann, darf und oder muss Wissenschaft sein?

‹ zurück zur Übersicht
12.11.2026  14:30h - 17:30h
EH Freiburg, Gebäude A, Raum A1/A2

Freiburger Wissenschaftsgespräch 2026

Prof. Dr. habil. Björn Kraus hat 2014 die Freiburger Wissenschaftsgespräche an der Evangelischen Hochschule Freiburg ins Leben gerufen. Mit diesem außergewöhnlichen Format einer öffentlichen Debatte zweier Wissenschaftler wurden immer grundlegende Fragen der Sozialen Arbeit diskutiert, die auch darüber hinaus Relevanz haben: für gesellschaftliche wie politische Diskurse. Gegenstand der Wortwechsel waren z.B. "Die Frage nach der Wahrheit", "Lebensweltliche Orientierung" oder "Was ist Wissen in postfaktischen Zeiten". Gesprächspartner waren mehrmals Prof. Dr. Dr. h.c. mult. em. Hans Thiersch und Prof. Dr. Ulrich Bartosch. Ausgewählte Wissenschaftsgespräche gibt als Videoaufzeichnung.

Welche Rolle kann und soll Wissenschaft in einer Gesellschaft übernehmen, in der sie zugleich unter politischen Druck gerät und zunehmend Teil ideologischer Auseinandersetzungen wird? Während einerseits autoritäre Tendenzen die Freiheit der Forschung gefährden – etwa durch staatliche Eingriffe in die Hochschulautonomie wie bspw. in den USA oder durch Versuche, gesamte Forschungsfelder pauschal zu diskreditieren, wird andererseits die wissenschaftliche Debatte selbst immer häufiger politisiert: Der Streit um Begriffe wie „Universalismus“ oder „Objektivität“ ist dabei längst zu einem politischen Konflikt geworden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich mit neuer Dringlichkeit die alte Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und normativen Ansprüchen. Inwieweit darf oder muss sich Wissenschaft in gesellschaftliche Debatten einmischen? Wie geht sie mit normativen Erwartungen und politischen Forderungen um? Und in welchem Maße dürfen Wissenschaftler*innen selbst politische oder normative Akteur*innen sein?

Diese Fragen sind keineswegs neu – sie ziehen sich durch die Geschichte der Wissenschaftstheorie. Björn Kraus und Fabian Kessl blicken auf zentrale Kontroversen zurück, damit aktuelle Herausforderungen besser verstanden und eingeordnet werden können. Während im ersten Werturteilsstreit der 1910er Jahre prominent Max Weber für eine wertneutrale Wissenschaft argumentierte, betonte Gustav Schmollner die seines Erachtens notwendige aktive Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten. Im zweiten Werturteilsstreit der 1960er Jahre – genau genommen ein Positivismusstreit – wurde darüber gestritten, ob es die Funktion der Wissenschaft sei, sich wertneutral mit Fakten (Kritischer Rationalismus/Positivismus etwa Karl Popper und Hans Albert) oder kritisch mit gesellschaftlichen Verhältnissen auseinanderzusetzten (Kritische Theorie etwa Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas).

Gut 100 Jahre nach dem ersten Werturteilsstreit wurden Mitte der 2000er-Jahre vereinzelte Werturteilsdebatten in der englischsprachigen und analytisch orientierten Philosophie geführt, die dann Mitte der 2010er-Jahre in der deutschsprachigen Wissenschaftstheorie aufgegriffen wurden (Gerhard Schurz/ Martin Carrier).

Unabhängig davon, ob dabei neue Argumente zur Sprache kamen, halte ich auch in den Diskursen der Sozialen Arbeit eine grundlegende Werturteilsdebatte für notwendig. Selbst wenn es heute keine neuen Argumente geben sollte, müssen wir angesichts der veränderten Verhältnisse in Wissenschaft und Gesellschaft wieder um eine grundlegende Selbstverständigung ringen. Wir brauchen also einen dritten Werturteilsstreit, in dem wir diskutieren, wie Wissenschaft und Werturteile unter gegenwärtigen Bedingungen zueinander stehen.

Björn Kraus

Einen Beitrag hierzu soll die Debatte von Kessl und Kraus leisten. Die beiden Wissenschaftler werden daher diskutieren: Was kann, darf und soll Wissenschaft leisten – und was nicht? Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler*innen – und wo liegen die Grenzen ihrer Rolle? Denn Wissenschaftler*innen können normative Akteur*innen sein – brauchen aber ein klares Rollenbewusstsein.

Kessl und Kraus werden die Chancen und Risiken, aber auch die Nebenwirkungen wissenschaftlicher Praxis im Licht verschiedener wissenschaftstheoretischer Positionen kritisch beleuchten und kontrovers diskutieren. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen theoretischen Verortungen der Diskutanten (Fabian Kessl in der kritischen Theorie und Björn Kraus im Relationalen Konstruktivismus) ist eine spannungsgeladene Debatte zu erwarten.

Zielgruppe der Wissenschaftsgespräche

Studierende, Dozierende, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Promovierende, Forschende und Lehrbeauftragte der Evangelischen Hochschule Freiburg sowie anderer Hochschulen und Universitäten sind herzlich willkommen.

 

Die Gesprächspartner

Björn Kraus, Foto: Bernd Schumacher

Prof. Dr. Björn Kraus ist Erkenntnistheoretiker und Sozialwissenschaftler. Seine Entwicklung des Relationalen Konstruktivismus und einer Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit haben maßgeblich zur Etablierung konstruktivistischer Perspektiven beigetragen. Von 2005 bis 2012 hatte er die W2 Professur für Sozialarbeitswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg inne, 2012 wurde er auf die neu gegründete W3 Profilprofessur Wissenschaft Soziale Arbeit berufen.

In der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) war er Vorstandsmitglied von 2009 bis 2014 und zuvor Mitglied des Arbeitskreises, aus dem 2002 die Sektion Theorie und Wissenschaftsentwicklung hervorgegangen ist. Er zählt zu den Protagonisten einer eigenständigen Wissenschaft der Sozialen Arbeit.

Fabian Kessl, Foto: F. von Heyden, BUW

Prof. Dr. Fabian Kessl ist Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge. Seit 2018 ist er Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt sozialpolitische Grundlagen an der Bergischen Universität Wuppertal. Zuvor war er an den Universitäten Heidelberg, Bielefeld, Duisburg-Essen tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Transformation von Bildung und Erziehung, insbesondere der (De)Institutionalisierung, der Sozialräumlichkeit und der Armutsverhältnisse. Fabian Kessl hatte und hat zahlreiche Funktionen in Fachgesellschaften und als Redakteur. U.a. war er von 2007 bis 2013 Mitglied des Vorstands der Kommission Sozialpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) und von 2014 bis 2018 gewähltes Mitglied des Gesamtvorstandes der DGfE. Zudem war er Mitglied der Redaktion der Zeitschrift „Widersprüche“ und geschäftsführender Mitherausgeber der Zeitschrift „Soziale Passagen“. Kessl ist Chefredakteur und Geschäftsführer des internationalen Online-Journals „Social Work & Society“.

Mehr Info

  • Dokumentation früherer Wissenschaftsgespräche, teilweise auch als Video und/oder als Bildergalerie sind hier online

Diese Veranstaltung ist Teil der Reihe

Evangelische Hochschule Freiburg
Reihe

Freiburger Wissenschaftsgespräche

Plattform zur Diskussion wissenschaftlicher Positionen vor und mit Publikum - mit Wissenschaftler*innen, Fachkräften aus der Praxis und Studierenden .
Weiterlesen »
Wir verändern Gesellschaft