Ein Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Harbeck-Pingel
Für Bernd Harbeck-Pingel ist Solidarität vor allem gelebte Praxis. Warum der wissenschaftliche Direktor des Freiburger Friedensinstituts den Begriff kritisch sieht, erklärt er im Gespräch.
Herr Harbeck-Pingel, in jüngster Zeit hat der Begriff „Solidarität“ Konjunktur: Immer wieder wird solidarisches Verhalten öffentlich bekundet oder eingefordert. Aber was ist das eigentlich: Solidarität? Zunächst einmal meint Solidarität das Verhalten einer Gruppe, die Ähnlichkeit mit einer anderen, notleidenden oder bedrängten Gruppe zum Ausdruck bringt. Der Begriff wurde im Zusammenhang der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert starkgemacht und ist dann gesellschaftlich lange Zeit sehr präsent geblieben. Er wanderte schließlich bis in die Theologie der 1970er ein, die sogar Gott solidarisch nannte. Heute wird das Wort „Solidarität“ häufig als Aufmerksamkeitsmarker verwendet. Dabei nutzt sich der Begriff ab, wird zur hohlen Phrase. Solange sich für diejenigen, die Gegenstand der Solidaritätsbekundungen sind, nichts ändert, ist das bloß ein Diskursformat.
Aber wenn ich Ihnen jetzt freundlich gegenübertrete und sage: „Ich solidarisiere mich mit Ihnen!“, und daraufhin fühlen Sie sich nicht mehr so allein auf der Welt – könnte das nicht doch eine Form praktischer Hilfe sein? Das wäre eine überflüssige Verwendung des Begriffs, das sollte man lassen. An der Stelle muss man den hohen Begriff der Solidarität gar nicht heranbringen und würde dann eben etwas anderes sagen – Mitgefühl zum Beispiel. Und auch in vielen Situationen praktischer Hilfe, wie sie zwischen Menschen etabliert ist, braucht man den Begriff nicht. Ein Beispiel: Ein ehemaliger Kollege war Mitglied eines „Friedenskreises“. 1993 hat dieser Kreis mehrmals im Jahr Hilfslieferungen in die Gegend von Tschernobyl organisiert – sieben Jahre nach der Katastrophe. Diese Geduld aufzubringen, für diese Kontinuität zu sorgen, muss nicht zwingend als Solidarität etikettiert werden. Das kann auch als eine Form von sozialem Zusammenhalt gelten, der den Begriff der Solidarität nicht mehr für sich reklamieren muss.
Ich kann auch mit Menschen solidarisch sein, deren Lebensverhältnisse ich nicht genau kenne, die mir kulturell nicht ähnlich sind oder die zu keiner vergleichbaren sozialen Gruppe gehören.
Der Soziologe Heinz Bude glaubt, eine Quelle der Solidarität sei das Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit. Sehen Sie das auch so? Natürlich kennen wir alle die Angst, verletzt zu werden, das mag auch bei Solidarität eine Rolle spielen. Aber die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und jemanden beispielsweise durch öffentlichen Protest zu unterstützen, das ist ja eine Aktivität. Anthropologisch ist mir die Aufmerksamkeit für Aktivitätsmuster wichtiger.
Ich wage einen Rettungsversuch: Es ist doch etwas Interessantes an der Idee, dass ich durch die Erfahrung, nicht alles im Griff zu haben, verstehe, dass andere ebenfalls nicht allein für ihre Lage verantwortlich sind. So weiß ich dann: Ich kann und sollte solidarisch sein, eine helfende Hand ausstrecken. Einverstanden. Die Pointe ist: In theologischen Kontexten ist die Begrenztheit des eigenen Handlungsradius selbstverständlich, ebenso wie die Frage danach, wann ich mich überfordere und wie ich damit aufhören kann.
Sie nannten Ähnlichkeit als Voraussetzung von Solidarität. Sie hat also damit zu tun, dass ich mich selbst im anderen erkenne? Avancierte Formen des Helfens setzen Ähnlichkeit voraus, sonst würde Empathie überhaupt nicht funktionieren. Die Ähnlichkeit muss nicht allumfassend sein. Ich kann auch mit Menschen solidarisch sein, deren Lebensverhältnisse ich nicht genau kenne, die mir kulturell nicht ähnlich sind oder die zu keiner vergleichbaren sozialen Gruppe gehören. Es reicht aus, gemeinsame Überzeugungen zu teilen – zum Beispiel, dass gegen eine bestimmte Form von Ungleichheit vorgegangen werden muss. In der Arbeiterbewegung war tatsächlich eine große Ähnlichkeit gegeben – nämlich in den Ausbeutungsverhältnissen, wie man damals gesagt hätte. Die hat man dann gemeinsam bekämpft. Aber im Moment wird Solidarität vorrangig als eine Form des Protests in den öffentlichen Diskurs eingebracht.
Haben Sie Beispiele für Solidarität in Aktion, wo Sie sagen: Hier funktioniert sie idealtypisch? In der Straßenbahn wird eine Person angegangen, weil sie die vermeintlich falsche Hautfarbe hat oder weil sie beispielsweise beim Fahrkartenlösen irgendetwas nicht verstanden hat. Oder jemand wird beschimpft, weil er oder sie öffentlich Crossdressing bevorzugt. Parteinahme in solchen Zusammenhängen verdeutlicht, was ich mit Ähnlichkeit als Basis der Solidarität meine: Ich muss nicht meinen Kleidungsstil ändern oder aufhören, Fahrkarten zu lösen, um zu wissen, dass ich nicht so behandelt werden möchte. Entsprechend zeige ich dann Zivilcourage, verhalte mich solidarisch.
Und wie sieht Solidarität in größeren Zusammenhängen aus? Wenn ich an von Gruppen geplante Solidaritätsaktionen denke, fällt mir auf, dass oft Handlungsmuster aus der Vergangenheit kopiert werden. Häufig verwenden diese ein sprachliches Format,damit andere Menschen überhaupt verstehen, dass man jetzt solidarisch ist – und das macht mich skeptisch. In der Straßenbahnsituation müsste ich ja beispielsweise nicht laut sagen „Ich verhalte mich jetzt solidarisch!“, um verstanden zu werden. Noch schwieriger wird es, wenn die Reichweite der solidarischen Aktion interkontinental ist. Insgesamt ist mir sympathisch, wenn Menschen nicht Handlungsmuster wiederholen, sondern neue Praktiken begründen.
Kann man nur mit Menschen solidarisch sein? Oder kann es auch so etwas geben wie eine Solidarität mit dem Leben oder sogar dem ganzen Planeten? Könnte die sogar gefordert sein, angesichts der globalen Erwärmung? Nein, bloß nicht. Ich warne meine Studierenden immer vor dem Unabsehlichen, beispielsweise DER Weltgesellschaft oder DER Menschheit. Das sind Größen, die gar nicht adressierbar sind. Allerdings hat es etwas für sich, wie Kant Länder als Quasipersonen behandelt. Beispielsweise kann sich das Land A mit dem Land B solidarisieren. Das geschieht aber mittels politischer Repräsentant*innen und nicht durch die Summe aller Einwohner*innen. Dass sich Institutionen solidarisieren können, kann ich mir auch vorstellen, beispielsweise, dass sich der Deutsche Journalistenverband solidarisiert mit Kolleg*innen, die im Land XY Repressionen ausgesetzt sind.
Wird solidarisches Handeln verstetigt, dann kommt eine Wohlfahrtsorganisation dabei heraus.
Funktioniert Solidarität ohne Gegenleistung? Oder spielt Wechselseitigkeit doch eine Rolle? Sie wird nicht erwartet, aber in stabilen sozialen Beziehungen könnten sich auf praktischer Ebene Wechselverhältnisse einstellen. Im März 2020 waren die Krankenhäuser im Elsass überlastet und das hat dazu geführt, dass französische Patient*innen in deutsche Kliniken verlegt wurden. Das Verhalten von deutscher Seite könnte man als einen Akt der Solidarität verstehen: Diejenigen, die Solidarität geübt haben, ahnten, dass es sie auch selbst hätte treffen können, und haben geholfen. Kann man im Sinne moralischer Benimmregeln nun eine Gegenleistung erwarten? Das sollte man nicht tun. Aber kann man in der Praxis Hilfe von französischer Seite erwarten, wenn sie benötigt wird? Sofort, gar keine Frage.
Kann sich Solidarität als gesellschaftliche Ressource auch erschöpfen? Fällt das Solidaritätsreservoir irgendwann trocken wie ein Wasserspeicher, den man nicht auffüllt? Ich würde sagen, jede*r Einzelne hat zunächst konditionelle Grenzen, das wäre das erste erschöpfbare Reservoir. Das zweite ist ein Aufmerksamkeitsreservoir, denn unsere Fähigkeiten zum Multitasking sind begrenzt: Wenn man sich auf Migration konzentriert, kann man sich nicht gleichzeitig um Gasleitungen und den Klimawandel kümmern. In der Öffentlichkeit hört die Solidarität in dem Maße auf, wie sich die Nachrichtenlage ändert und direkte Begegnungen seltener werden. Außerdem braucht Solidarität Emotionen: Sie ist das feurige, begeisterte, in gewisser Hinsicht auch kritikfreie Engagement für andere. Und drittens kann sich das durch die Erfahrung von Negativität erschöpfen. Nicht alle Erfahrungen, die man beim solidarischen Handeln macht, sind angenehm: Nicht alle Probleme kann man lösen, und Menschen werden einem auch nicht unbedingt sympathischer, nur weil man ihnen hilft. Deswegen wäre es wahrscheinlich nicht schlecht, solidarische Handlungen als Raumzeitgebiete zu verstehen – als Handlungsbündel, die aktiviert werden können und wieder verlöschen. Sie können nicht auf Dauer existieren. Wird solidarisches Handeln verstetigt, dann kommt eine Wohlfahrtsorganisation dabei heraus.
Was halten Sie davon, wenn Solidarität öffentlich eingefordert wird? Wenn man sie einfordern muss, ist das ein Krisensymptom. Es stellt sich auch die Frage, ob es ein wirkungsvolles politisches Instrument ist, öffentlich mehr Solidarität zu fordern. Zudem gibt es so viele andere schöne Begriffe: „Subsidiarität“ beispielsweise oder „Helfen“ oder „sozialer Zusammenhalt“. Soziale Ziele sollten jedenfalls nicht zu stark betont werden. „Wir treffen uns hier, um sozialen Zusammenhalt zu fördern“: Wenn das eigens gesagt werden muss, fühlt man sich moralisch belehrt oder indoktriniert. Deswegen sollte Solidarität nicht eingefordert werden. Solidarität erklären? Meinetwegen. Und Solidarität ausüben? Das ist vielleicht das Beste.
(Interview: Nora Lessing)
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