Menschen mit psychischen Erkrankungen fallen nach der stationären Behandlung häufig durchs Raster. Das Forschungsprojekt „Netzwerkorientierung im digitalen Kliniksozialdienst“ soll das ändern. Per App kann schon bei Aufnahme in die Klinik erkannt werden: Wo hinkt die Versorgung? Wo fehlt das soziale Sicherheitsnetz? Die Zusammenarbeit zwischen der EH Freiburg und den Kliniken der Oberberg-Gruppe wird über DATIpilot mit 300 000 Euro gefördert. Für die Projektpartner Prof. Dr. phil. Fabian Frank und Priv.-Doz. Dr. Lars Hölzel war die gemeinsame Bewerbung im neuen Förderprogramm eine spannende Erfahrung.
Das Projekt
In Tages- und Fachkliniken finden Menschen Hilfe bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. Der Schutzraum hat jedoch seine Grenzen. Überspitzt gesagt: Stationär kümmert sich ein ganzes Heer von Ärzt*innen und Betreuungsprofis um die Patient*innen, sie haben einen strukturierten Tagesablauf, können an therapeutischen Angeboten teilnehmen. Dann kommen sie nach Hause – und fallen in ein Loch. Das Dilemma ist bekannt, gute Nachversorgung jedoch eine Herausforderung.
„Wir wissen, dass diese Menschen Unterstützung brauchen, damit sie langfristig gesund bleiben“, sagt Lars Hölzel von der Oberberg-Gruppe, dem Projektpartner der EH Freiburg. Neben der professionellen Begleitung durch ärztliche Behandlung und Psychotherapie sind auch alltägliche Kontakte und das soziale Umfeld wichtig. „Wir setzen in der Klinikgruppe jetzt schon psychotherapeutische Ansätze ein, die auf soziale Interaktion und Beziehungen abzielen“, so Hölzel. Die Häuser sind mit ambulanten Versorgungseinrichtungen und Selbsthilfegruppen vernetzt.
Digitale Werkzeuge spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: In 19 Kliniken der Oberberg-Gruppe gehört eine App für die Aufnahme- und Verlaufsdiagnostik zum Standard. Über 10 000 Patient*innen haben sie bereits genutzt. Ein Kernelement sind digitale Fragebögen, die das behandelnde Team und den Kliniksozialdienst bei der Diagnostik und Behandlungsplanung unterstützen. Dazu gehört bereits eine Frage zum Verhalten von Bezugspersonen aus Familie oder Freundeskreis: Reagieren sie hilfreich, unterstützen sie genug? Was es noch nicht gibt: eine systematische Erfassung der sozialen Netzwerke, bei der auch andere Sozialkontakte, etwa am Arbeitsplatz oder in Vereinen mitgedacht und in Beziehung zur professionellen Betreuung gesetzt werden.
Diese Lücke soll durch das Forschungsprojekt „Netzwerkorientierung im digitalen Kliniksozialdienst“ (NodiKs) kleiner werden. Es startet im Dezember 2024 und läuft 18 Monate. Sieben Privatkliniken der Oberberg-Gruppe erweitern ihr Monitoring. Der neue Fragebogen folgt einem netzwerkanalytischen Vorgehen, das an der EH Freiburg entwickelt wurde.
Fabian Frank: „Wir fragen nach Unterstützungsleistungen und nach den Akteuren, von denen Hilfe kommt. So können wir das Netzwerk sichtbar machen und frühzeitig erkennen, ob jemand sozial isoliert ist.“ Erhalte der Kliniksozialdienst mehr Einblick in die soziale Einbettung der Entlassenen, könne er besser reagieren und intervenieren. Betroffene aufs Kontakteknüpfen vorbereiten zum Beispiel. Oder Personen aus dem Umfeld dafür sensibilisieren, was weiterhilft.
Mit unseren Entwicklungen können auch andere etwas anfangen. Sie werden gewissermaßen zu Werkzeugen für die weitere Arbeit.
Die Zusammenarbeit
Die EH Freiburg als SAGE-Hochschule arbeitet für das NodiKs-Projekt mit der Oberberg-Gruppe zusammen. Diese vor über 30 Jahren gegründete Klinikgruppe hat ihren Hauptsitz in Berlin und deutschlandweit Fach- und Tageskliniken im Bereich Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Das Verfahren DATIpilot des Bundesforschungsministeriums (BMBF) ist darauf zugeschnitten, dass Hochschulen mit Partnern aus der Praxis soziale oder technische Innovationen vorantreiben.
Wissen aus der Forschung soll schneller bei den Praktiker*innen ankommen, vielleicht sogar neue Geschäftsmodelle auf den Weg bringen. „Auch wenn die EH Freiburg der Logik der Förderrichtlinie entsprechend federführend aufdem Papier steht, sind wir gleichberechtigte Partner“, betont Fabian Frank. Ideenentwicklung, Antragstellung und Projektvorstellung für die „überwiegend soziale Innovation“ waren Teamarbeit. Die 300 000 Euro Fördergeld werden je zur Hälftezwischen beiden Institutionen aufgeteilt.
Das gemeinsame Projekt würde es nicht geben, wenn sich nicht Fabian Frank und Lars Hölzel vor über 15 Jahren an der Uniklinik in Freiburg über den Weg gelaufen wären. Hölzel war damals Wissenschaftlicher Mitarbeiter und leitete eine Arbeitsgruppe zur Psychotherapie- und Versorgungsforschung. Frank kam als wissenschaftliche Hilfskraft dazu. Über die Jahre entstand ein vertrauensvolles Verhältnis, das nie ganz einschlief – auch nicht, als ihre Karrierewege einen unterschiedlichen Verlauf nahmen.
Lars Hölzel leitet mittlerweile die Versorgungsforschung an den Oberberg-Kliniken, Fabian Frank ist Professor für Wissenschaft Soziale Arbeit und Prorektor für Forschung und Transfer an der Evangelischen Hochschule. Als die beiden gut gelaunt ihre gemeinsame Geschichte rekapitulieren und auf die Motivation zur gemeinsamen Antragstellung im DATIpilot eingehen, vergleichen sie sich mit den Blues Brothers, die die Band beziehungsweise die Arbeitsgruppe zusammenhalten.
Beide haben sich aus ihren jeweiligen Perspektiven heraus bereits mit Versorgungslücken und der Rolle von sozialen Netzwerken befasst, auch schon gemeinsam zur Angehörigenarbeit publiziert. So verdichten sich in der kurzen Antragsskizze zum Projekt viele Jahre der Forschung und Zusammenarbeit.
Wir wollen frühzeitig erkennen können, ob jemand sozial isoliert ist.
Die Förderung
Das DATIpilot-Verfahren war für Hölzel und Frank ein Anreiz, wieder gemeinsam zum Thema zu forschen, weil die Antragstellung vergleichsweise wenig Aufwand erforderte. Im erstenSchritt fassten sie ihre Projektidee in einer zweiseitigen Skizze zusammen „Zwei Seiten – so viel hat bei einem normalen Förderantrag allein die Zusammenfassung“, sagt Frank. Die Skizze für NodiKs und etwa 3000 vergleichbare Bewerbungen für das Fördermodul „Innovationssprints“ wurden geprüft: Sind hier förderwürdige technologische oder soziale Innovationen zu erkennen, die schnell, also in maximal 18 Monaten Laufzeit realisiert werden können?
Wer überzeugte, kam eine Runde weiter und durfte seine Projektidee mit einem Fünf-Minuten-Pitch vorstellen, auf einer sogenannten Roadshow: Die versammelten Antragsteller*innen aus vielen unterschiedlichen Disziplinen bewerteten sich gegenseitig mit Punkten. Die Punktbesten qualifizierten sich für eine inhaltliche Förderzusage und wurden aufgefordert, einen formalen Förderantrag zu stellen. Für NodiKs kam dann im Juni 2024 die offizielle Förderzusage aus dem Bundesministerium.
Frank und Hölzel blicken mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück. „Wir haben zuerst ein bisschen mit dem Format gefremdelt, hatten dann aber großen Spaß bei der Antragstellung und der Präsentation“, rekapituliert Hölzel.
So sehr die beiden sich über den Zuschlag freuen – ein paar Kritikpunkte am Förderwerkzeug DATIpilot haben sie schon: Beim Pitch mit Punktevergabe kämen Faktoren zum Tragen, die mehr mit Marketing und Rhetorik als mit Wissenschaftlichkeit zu tun haben. Insgesamt erscheint das Verfahren etwas intransparent, weil die Auswahl- und Bewertungskriterien nicht zu 100 Prozent nachvollziehbar sind. Und die finale Förderquote für alle Innovationssprints falle mit 10 Prozent relativ niedrig aus, obwohl rund 150 Projekte über ein Losverfahren nachnominiert wurden.
Der Ausblick
Läuft das Projekt gut, könnten in Zukunft deutlich mehr Patient*innen von einer besseren Nachversorgung profitieren. Die Netzwerkorientierung kann auf die gesamte Oberberg-Gruppe ausgeweitet werden und auch anders aufgestellte Kliniken sollen die Entwicklungen adaptieren können.
Auf dem veränderten Monitoring der Patient*innen können digitale Tools aufbauen, die das Matching zwischen weiterbehandelnden Psychotherapeut*innen und Hilfesuchenden verbessern und Wartezeiten verkürzen. Die Forschenden hoffen außerdem, dass sich ihre Erkenntnisse auch auf andere als psychische Krankheiten übertragen lassen. Schließlich spielen soziale Unterstützung und psychische Gesundheit auch für viele chronische Erkrankte eine entscheidende Rolle.
(Dirk Nordhoff)