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Professorin Anke Stallwitz

„Ich hatte immer ein Gespür dafür, zur richtigen Zeit am richtigen akademischen Ort zu sein.“

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Mein Weg: Anke Stallwitz

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Als Wissenschaftler*in den eigenen Weg zu finden, ist eine große Herausforderung. Anke Stallwitz, Professorin für Sozialpsychologie an der EH Freiburg, hat sich einen Namen als Spezialistin für Drogenszenen in internationalen Kontexten gemacht. Wie ist ihr das gelungen? Ein Blick zurück.

Fordernd und intensiv war es überall, keineswegs reibungsfrei, doch es hat am Ende immer geklappt und „es hat sich definitiv gelohnt“.

Anke Stallwitz

Anke Stallwitz hat ihr Lebensthema bereits vor dem ersten Semester gefunden: Nach der Schule machte sie als 19-Jährige ein Pflegepraktikum in einem Krankenhaus. Dort gab es auch eine Drogenentzugsstation. Stallwitz verliebte sich in einen heroinabhängigen jungen Mann, der nach seinem Entzug auf ihrer Station gelandet war. Die Beziehung hielt nur zwei Monate, doch sie prägte die junge Frau fürs Leben: „Ich war danach fix und fertig und habe viele Fragen gehabt: Wieso hat er mich so herabwürdigend behandelt? War das die ‚böse‘ Droge Heroin? Seine harte Kindheit? Oder einfach seine Persönlichkeit? Ich wollte diese Fragen klären.“

Heute, über 20 Jahre später, sind Verhaltensweisen und -normen im Drogenmilieu ein Forschungsschwerpunkt der Sozialpsychologin. Private Fragen sind zu Forschungsfragen geworden. Was im Rückblick wie eine gerade Linie von A nach B aussieht, war ein Suchen und Finden mit Umwegen: eine Mischung aus persönlichen Entscheidungen, Inspirationen, Hartnäckigkeit, Glück und Risikobereitschaft.

Start in Schottland

Beim Einstieg in die akademische Welt interessiert Anke Stallwitz zunächst ein anderes Fachgebiet. Vor der Sozialpsychologie probiert sie die Politikwissenschaft aus: „Ultraspannend, aber ich hatte einfach den Eindruck, ich bin zu weit weg von den Menschen.“ Der zweite Anlauf führt die gebürtige Hagenerin heraus aus Deutschland. Von 1997 bis 2001 absolviert sie im schottischen Glasgow an der Caledonian University den Bachelorstudiengang Psychologie (Honours). Im zweiten Semester macht sie ein für sie wegweisendes Praktikum in einer Drogenberatungsstelle und arbeitet dort weiter bis zu ihrem Studienende. Lebensnah und praktisch zu arbeiten, war für sie genau das Richtige: „Die Arbeit mit Drogenabhängigen hat mir vor Augen geführt, dass ich in dieses Feld tiefer einsteigen möchte.“

Nach dem Studium bleibt sie noch ein Jahr in der schottischen Drogenberatung, arbeitet in Glasgow und auf den Shetlandinseln. Für Stallwitz ist die Rolle als Drogenarbeiterin kein Kontrast zum akademischen Leben, sondern eine Ergänzung: „Für mich war klar: Ich brauche den Praxisbezug, um mit den Erfahrungen von der Straße und der Szene in die Forschung zu gehen.“

Im Lauf der Zeit wird ihre Vorstellung vom idealen Arbeitsumfeld noch um eine Facette reicher, denn ihr wird klar: Die eigene Forschung soll über die Fachwelt hinaus Relevanz haben. Anke Stallwitz will „mindestens auf einer lokalpolitischen Ebene“ etwas verändern. „Ein Kollege war in einer Schnittstelle tätig, in der er Praxis und Forschung verbinden sollte, und im Prinzip auch noch Politik. Das fand ich total attraktiv. Da habe ich das erste Mal diese Idee gehabt: Ich möchte eine Arbeit haben, mit der ich diese drei Dinge zusammenbringen kann.“

Phase der Orientierung

2002 kehrt Anke Stallwitz nach Deutschland zurück. Ihr Abschluss in Schottland wird als deutsches Diplom anerkannt. Das sind Türöffner: Auslandserfahrung und Diplom. Es ist trotzdem nicht leicht, Fuß zu fassen. „Doch ich hatte immer ein Gespür dafür, zur richtigen Zeit am richtigen akademischen Ort zu sein.“ Wie viele andere Nachwuchswissenschaftler*innen bahnt sich Stallwitz ihren Weg durch den deutschen Hochschulkosmos.

Die Jobs sind inhaltlich traumhaft, gleichzeitig schlagen ihr die Arbeitsbedingungen und -strukturen teilweise im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen. Sie macht Erfahrungen, die ihr später helfen, im richtigen Moment „Nein“ zu sagen. Während ihrer Dissertation erhält sie ein Angebot für eine steile Karriere in der Wissenschaft, von dem sie aber weiß, dass es sie überlasten würde. Sie lehnt ab. „Die harte Wissenschaftsmaschinerie, in der keine Rücksicht genommen wird, das war nicht das, was ich wollte“, sagt sie rückblickend. Umso wichtiger ist es für sie in dieser Zeit, auf andere zu hören, die ihre Qualitäten und Stärken erkennen.

Stallwitz erinnert sich lebhaft daran, wie sie einmal mit ihrer jüngeren Schwester in einem Vorlesungssaal stand, lange bevor sie als Dozentin ihre erste eigene Lehrveranstaltung gab. „Ich bin zum Rednerpult gegangen und habe so getan, als würde ich jetzt eine Vorlesung halten. Und meine Schwester hat gesagt: ‚Ja, genau da kann ich mir dich gut vorstellen.‘“

Während der Promotion konkretisiert sich ihre Vision einer Professur an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit sozialem Profil. „Genau das möchte ich“, wird sich Anke Stallwitz klar.

Ankommen in Freiburg

2010 ist ein wichtiges Jahr für Stallwitz. Für ihre Promotion an der Universität Bremen untersucht sie, welche Rolle Gemeinschaftssinn innerhalb von Drogenszenen spielt. Ihre Dissertation – “The role of community-mindedness in the selfregulationof drug cultures. A case study from the Shetland Islands” – erscheint 2012. Hierfür knüpft sie thematisch an ihre Bachelorarbeit über die Heroinszene auf den Shetlandinseln an. Noch vor Abschluss der Promotion bewirbt sich Stallwitz als Professorin für Sozialpsychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Die Verbindung von Forschung, Praxis, Politik und Lehre an der Hochschule trifft ihre Wunschvorstellungen zu hundert Prozent. Doch zunächst kommen ihr Zweifel wie „Ich bin zu jung“, „Ich kenne da keinen“, „meine Disputation ist doch erst übermorgen.“

Doch sie meistert das Bewerbungsverfahren, überzeugt die Berufungskommission: zum Oktober 2010 wird sie auf die Professur berufen. Nach den Weichenstellungen in Schottland und den Jahren der Suche in Deutschland heißt es nun: endlich angekommen.

An der EH Freiburg kann Stallwitz lehren, forschen, ihre bisherigen Erfahrungen auf eine neue Drogenszene anwenden und die Drogenpolitik und Suchtbetreuung in Freiburg mitgestalten. 2015 organisiert sie den interdisziplinären Fachtag „Safer Drug Use weiterdenken: Die Ressourcen der Freiburger Drogenszene nutzen“ mit Fachleuten aus den Bereichen Drogenhilfe, Polizei und Strafvollzug, Politik, Medien und mit Menschen aus der lokalen Drogenszene.

Prof.in Dr.in Anke Stallwitz; Foto: Bernd Schumacher

Es folgt ein Forschungssemester in Vancouver, Kanada. Im August 2016 ist Stallwitz im kanadischen Radio zu hören. Zudem fasst sie in Interviews mit kanadischen Zeitungen für das nicht akademische Publikum, das keine Fachzeitschriften liest oder Konferenzen besucht, Erkenntnisse aus ihrem Forschungssemester zusammen. In Vancouver erlebt sie die größte offene Drogenszene Kanadas und begleitet sie wissenschaftlich. Stallwitz erklärt, dass es in Gemeinschaften seltener zu Gewalt kommt, wenn die Szene einem eigenen Verhaltenskodex folgt und Verstöße sanktioniert. Auch hier kommt ihr Modell vom Gemeinsinn zum Tragen.

Sie will die Gewalt bei Drogenverkaufssituationen verstehen, um sie vermeiden zu können. Mit Mitgliedern des „Vancouver Area Network of Drug Users“, einer politischen Interessenvertretung bestehend aus Konsumierenden, initiiert sie ein Peerforschungs- und Peerinterventionsprojekt. Sie überprüft ihr Dissertationsthema an gefährlichen Orten und in vielen Gesprächen mit Menschen, von denen manche stündlich mit Gewalt konfrontiert sind und über Morde für umgerechnet 20 Euro berichtet wird: „Ich hatte in Vancouver wie auch in anderen Städten keine Garantie, ob die da so eine behütete junge Frau aus einem anderen Land überhaupt an sich ranlassen. Ob die mich ernst nehmen würden und bereit wären, mit mir zusammenzuarbeiten.“ Fordernd und intensiv war es überall, keineswegs reibungsfrei, doch es hat am Ende immer geklappt und „es hat sich definitiv gelohnt“.

Bei der Berufswahl würde ich unbedingt empfehlen, nicht dem Soll zu folgen, sondern dem eigenen Herzen.

Anke Stallwitz

Zurück in Freiburg stellt sie fest: „Es ist nicht alles immer ‚easy peasy‘, aber es ist mein Traumjob.“ Als die Sozialpsychologin realisiert, dass sie sich etwas festgefahren hat, hängt sie an das Forschungssemester in Kanada noch ein Jahr in Schweden dran; die EH Freiburg stellt sie dafür frei, sodass sie auf ihre Professur zurückkehren kann. An der Stockholmer Universität führt sie mit der „Swedish Drug User Union“ das Peerforschungs- und Peerinterventionsprojekt „Ljuspunkten – der Lichtblick“ zu Gewalt gegen Frauen in der Stockholmer Drogenszene durch. Danach reduziert sie ihre Professur in Freiburg auf eine halbe Stelle. Finanziell gesehen: ein Verlust. Mit Hirn und Herz betrachtet: ein Gewinn.

Durch die reduzierte Arbeitszeit fällt es ihr leicht, neben der Lehre und dem Engagement in der Hochschulselbstverwaltung genug Zeit für Forschungsprojekte aufzubringen, die ihr wichtig sind. Aktuell konzentriert sie sich im Drogenmilieu von Malmö auf geflüchtete Jugendliche aus Afghanistan und wertet 2019 und Ende 2021 geführte Vor-Ort-Interviews aus. Zur Selbstfürsorge gehört auch, ausreichend Zeit zur Erholung zu haben und überhaupt nicht zu arbeiten. Früher war der Samstag ein normaler Arbeitstag für Stallwitz. Heute gilt samstags: Wald statt Wissenschaft.

(Dirk Nordhoff)

Expertise als Drogenforscherin

Auf die Fragen, die sie als junge Frau bewegten, hat die Professorin über die Jahre einige Antworten gefunden. Ihre jüngsten Publikationen heißen „Love & hate in the Downtown Eastside of Vancouver: features of an unusual drug scene“ und „Gewalt gegen Frauen in der Stockholmer Drogenszene“. Die Themen ihrer Forschung sind von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse, sodass Anke Stallwitz immer wieder als Expertin gefragt ist. Als im Herbst 2021 die Bundesregierung wechselt und das Thema Cannabis-Legalisierung diskutiert wird, holt der Radiosender WDR 5 in seiner Sendung „Tagesgespräch“ als sachkundige Stimme der Wissenschaft Stallwitz dazu.

Wer zu Diskussionen und Interviews geladen wird, wer außerhalb der Fachwelt erklärt, einordnet und vermittelt, wer ein prägnantes, medientaugliches Ein-Wort-Etikett angesteckt bekommt wie „Drogenforscherin“ – diese Person hat es geschafft, sich ein klares wissenschaftliches Profil aufzubauen. Der Sozialpsychologin ist es gelungen, neue Perspektiven auf internationale Drogenszenen zu eröffnen – sowohl wissenschaftlich als auch politisch.

Auf lange Sicht hilft es, wenn die Forschungsfragen und Methoden der Disziplin zur eigenen Persönlichkeit passen. „Wissenschaftliche Artikel zu schreiben, theoretische und politische Konzepte zu entwickeln: Das erfüllt mich“, sagt Stallwitz. Sie ist aber auch ein kommunikativer Typ, der regelmäßig „raus muss“, wie sie es nennt. Weil sie sowohl mit der Drogenszene als auch mit Professor*innen zu tun hat, im Radio wie auf Konferenzen spricht, muss sie sich auf verschiedene Zielgruppen einlassen können: Dieser Wechsel ist es, den sie braucht. Stallwitz ist eine offene, mutige Frau ohne Berührungsängste. Mit der Sozialpsychologie hat sie die passende Disziplin für sich gefunden. Ein bisschen schwingt wohl ihre ursprünglich private Motivation mit, wenn Anke Stallwitz sagt: „Bei der Berufswahl würde ich unbedingt empfehlen, nicht dem Soll zu folgen, sondern dem eigenen Herzen.“

(Dirk Nordhoff)

Wir verändern Gesellschaft