Ein Gespräch mit Prof.in Dr.in Nina Wehner
Nina Wehner beschäftigt sich viel mit Ungleichheit, insbesondere zwischen den Geschlechtern. Im Interview erzählt die Professorin für Soziologie, welchen gesellschaftlichen Auftrag Wissenschaft hier hat.
Frau Wehner, wie können Wissenschaftler*innen zu einer solidarischen Gesellschaft beitragen? Zunächst einmal wehre ich mich gegen eine Romantisierung von Solidarität. Wir können Ungleichheit mit Solidarität allein nicht überwinden. Das liegt auch daran, dass man sich eher mit Menschen der eigenen Gruppe solidarisiert. Aber indem wir solidarisch reagieren, können wir ungleiche Gesellschaftsverhältnisse abfedern. Es ist ein Anliegen der Soziologie, Ungleichheiten zwischen Personen und zwischen Gruppen sichtbar zu machen. Zumindest ist es mein Anliegen. Wir haben gegenüber der Gesellschaft einen Bildungsauftrag.
Es gibt immer noch Menschen, die am Sinn von Genderforschung zweifeln. Warum ist Ihre Arbeit notwendig? Wenn wir Ungleichheit betrachten, spielen dabei das biologische und das soziale Geschlecht eine große Rolle. Die Wut, die uns Forschenden zum Beispiel in den sozialen Medien entgegenschlägt, hat damit zu tun, dass wir uns auch mit sexuellen Identitäten beschäftigen, mit Begehren. Diese Themen sind eng mit Identität verbunden. Wenn Menschen Sorge haben, dass ihre eigene Identitätsform – die immer klar, „normal“, unhinterfragt war – plötzlich nur noch eine von mehreren ist, dann kann das Verunsicherung auslösen.
Es gab immer schon Inter- und Transpersonen. Und sexuelles Begehren hatte schon immer viele Facetten. Was hat sich aus soziologischer Sicht verändert? Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Menschen, die nicht nach der Norm lebten, weniger sichtbar und weniger laut. Auch dank des Internets können sie sich heute informieren, vernetzen und verbünden. Das ist nicht nur für die Forschung ein Thema. Auch in der Praxis spielt das eine große Rolle. Unsere Studierenden der Sozialen Arbeit arbeiten während ihres Praxissemesters beispielsweise in der Mädchen- oder Jungenarbeit, in Jugendberatungsstellen, im Frauenhaus oder in der Schwangerschaftskonfliktberatung. Und auch dort kommt an, dass sich junge Menschen heute in einer früheren Lebensphase fragen: Könnte es sein, dass ich trans bin? Könnte es sein, dass ich gar nicht heterosexuell begehre? Ich sehe das als emanzipatorischen Fortschritt und als Gewinn für unsere Gesellschaft: Heute können junge Leute relativ befreit von Tabus und Stigmatisierung diese Fragen stellen.
Die Wut, die uns Forschenden zum Beispiel in den sozialen Medien entgegenschlägt, hat damit zu tun, dass wir uns auch mit sexuellen Identitäten beschäftigen.
Häufig wird ja eine ganz konkrete Maßnahme kritisiert, mit der Hochschulen versuchen, mehr Sichtbarkeit zu schaffen: die gendersensible Sprache. In welchem Verhältnis stehen Aufwand und Wirkung? Der Effekt gendersensibler Sprache ist groß. Empirische Studien zeigen, dass schon das Hinzufügen der weiblichen Bezeichnung von Berufen dazu führt, dass Mädchen diese Berufe überhaupt für sich in Betracht ziehen und dass Frauen sich häufiger auf entsprechende Stellenausschreibungen bewerben. Einfach, weil sie sehen und hören: Es gibt auch Bäckerinnen und Raumfahrerinnen, Professorinnen und Forscherinnen. Gendersensible Sprache ist eine Möglichkeit, Menschen ein- und nicht auszuschließen. Am Ende ist es auch eine Gewohnheit – ich möchte keine Bachelorarbeit mehr lesen, in der die Autorin schreibt: „Ich als künftiger Sozialarbeiter …“
Ist es für Sie ein Widerspruch, an einer Hochschule in kirchlicher Trägerschaft zu arbeiten und nicht-binäre Genderkonzepte zu vermitteln? Nein. An der EH Freiburg gilt wie an staatlichen Hochschulen die Freiheit von Forschung und Lehre. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass meine Forschungsthemen für die Praxis relevant sein sollen. Und da ist Geschlechterforschung Fluch und Segen zugleich, denn sie ist immer und überall relevant. Was ich als positiv für meine Arbeit empfinde, sind die Werte, auf die wir uns als Hochschule verständigt haben. Wir versuchen, die gesellschaftliche Diskussion über soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit zu gestalten.
Als Soziologin motiviert es mich, dass ich an der EH Freiburg Wissen und Methoden vermitteln kann, die meine Studierenden tatsächlich in ihrem Beruf benötigen werden.
In welche Richtung wird sich die Geschlechterforschung an der EH Freiburg in den kommenden Jahren entwickeln? Welche Themen möchten Sie voranbringen? Ich würde gerne weiter zum Thema Elternschaft forschen, zu Normen und Anforderungen, mit denen sich Mütter und Väter, aber auch kinderlose Menschen auseinandersetzen müssen. Ein weiteres, sehr relevantes Thema ist häusliche Gewalt. Dazu hat meine Vorgängerin, Prof.in. Dr.in Cornelia Helfferich, lange geforscht. Wir können also auf gute Forschungsdaten zurückgreifen. Das Thema ist auch ein Beispiel dafür, wie Forschung ein Problem in die Öffentlichkeit bringen kann. Vor 30 Jahren gab es noch große Tabus, heute lernen Kinder schon in den Grundschulen, dass es häusliche Gewalt gibt. Die Medien berichten täglich darüber. Die Zahlen sinken leider nicht, aber das Bewusstsein wächst, dass es häusliche Gewalt gibt und zwar in Haushalten aller Schichten. Heute kann man darüber sprechen – und dann auch helfen. Übrigens auch Männern, die von häuslicher Gewalt betroffen sind und die noch einmal ganz andere Schwierigkeiten haben, sich Hilfe zu holen.
Wie fließt diese Forschung in die Lehre ein? Wir nutzen beispielsweise die Interviews, die Cornelia Helfferich mit Frauen geführt hat, die in Gewaltbeziehungen gelebt haben. Die Studierenden können sich dadurch einen Perspektivwechsel erarbeiten, denn anfangs fragen sie sich natürlich, warum jemand freiwillig bei einem gewalttätigen Menschen bleibt. Wir nutzen unser großes Netzwerk und laden regelmäßig Praktiker*innen in unsere Seminare ein: Mitarbeiter*innen des Frauenhauses, eine Familienanwältin oder eine Polizei-Oberkommissarin, die Fälle von häuslicher Gewalt bearbeitet. Solche Begegnungen sind für die Studierenden prägende Aha-Erlebnisse. Diese Mischung ist wichtig, damit sie verstehen, wie viel Ausdauer sie bei der Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt brauchen werden. Als Soziologin motiviert es mich, dass ich an der EH Freiburg Wissen und Methoden vermitteln kann, die meine Studierenden tatsächlich in ihrem Beruf benötigen werden.
(Interview: Stefanie Hardick)
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