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Professor Georg Wagensommer:

„Aktuell betreue ich eine Dissertation, die absolut meinen Nerv trifft: Es geht um die Fragen nach Leben und Tod im Kontext der neuen, generalistischen Pflegeausbildung."

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Wie relevant ist Religionsunterricht heute?

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Ein Gespräch mit Prof. Dr. habil. Georg Wagensommer

Georg Wagensommer hat schon als Kind mit seinen Playmobil-Figuren geschichtliche und biblische Szenen nachgespielt. Seine Faszination für Religion blieb über die Schulzeit hinweg erhalten – unter anderem dank zweier Lehrer, die ihn zum Nachdenken brachten. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Religionsdidaktik, berufsorientierte Religionspädagogik, Antisemitismusforschung, Unterrichtsforschung und Wertebildung.

Herr Wagensommer, Sie leiten den Master-Studiengang Religionspädagogik an der EH Freiburg – und unterrichten als Religionslehrer an einer Berufsschule. Die Kombination ist ungewöhnlich. Warum tun Sie beides? Weil ich sehr gerne Religion an Schulen unterrichte! Und weil ich finde, dass junge Menschen ein Recht auf Religion haben. Religion beantwortet die wesentlichen Lebensfragen. Sie kann eine lebensverändernde Orientierung geben. Doch um mit den Schüler*innen ins Gespräch zu kommen, muss der Unterricht sie wirklich ernst nehmen. Das ist mir wichtig. Und das will ich auch meinen Studierenden vermitteln.

Wie macht man das – die Schüler*innen wirklich ernst nehmen? Kürzlich erlebte ich bei einem Schulbesuch, wie Schüler*innen über Grundgedanken des Buddhismus reflektiert haben. Es ging um inneren Frieden und darum, Materielles geringer zuschätzen. Nun ist es so, dass empirische Studien seit vielen Jahren zeigen, dass für Jugendliche Orientierungen aus einer sozialen, familialen und personalen Dimension überaus wichtig sind. Das heißt, mit Orientierungen aus diesen Bereichen erreichen Sie bei Teenagern – laut der Jugendstudie Baden-Württemberg von 2020 – heute Zustimmungswerte von fast neunzig Prozent. Und auch Frieden wird sehr hoch gewertet. Im Unterricht äußern Jugendliche dies auch und natürlich finden erst mal alle, dass Frieden wichtig ist! Das können Sie dann im Unterricht ansprechen –und die Selbstbezogenheit und den Materialismus in unserer Gesellschaft anprangern. Doch andererseits: Was wollen Jugendliche mit 17, 18, 19 Jahren darüber hinaus? Natürlich wollen sie vorwärtskommen, was erreichen. Sie wollen Geld verdienen, sich etwas kaufen. Das ist auch gut so. Meine Rolle ist dabei nicht, dass ich pädagogisch etwas einfordere, was persönlich nicht nachvollzogen werden kann. Sondern vielmehr dem nachzugehen, wie das eine mit dem anderen zusammengehen kann.

Prof. Dr. habil. Georg Wagensommer; Foto: Bernd Schumacher

Braucht es heute vielleicht eher eine Religionskunde statt Religionsunterricht, um den Fragen der Jugendlichen gerecht zu werden? Nein, ich bin der Meinung, dass Religionsunterricht von Menschen erteilt werden muss, die sich positionieren, die ein Bekenntnis haben. Damit es nicht rein theoretisch um gesellschaftliche oder religiöse Werte geht, sondern immer auch um die Fragen: „Was ist mir wichtig?“, „Was glaube ich?“ Kinder machen Grenzerfahrungen. Mit dem Tod. Mit Träumen, die sich bewahrheiten. Mit Verlusten durch Umzüge oder der schönen Erfahrung, dass auch am neuen Wohnort Freunde gefunden werden. Dann gibt es auch Trennungen, Krankheiten, Behinderungen, Arbeitslosigkeit oder Schulden. Und dann fragen sie: „Mein Opa ist gestorben. Was glaubst du, wo er jetzt ist?“ oder „Meine Mutter hat ihre Arbeit verloren. Wie geht es weiter?“ Da sind Sie persönlich gefragt und nicht Ihr Wissen darüber, was der Hinduismus im Unterschied zum evangelischen Christentum sagt. Eine reine Religionskunde hat hierzu keine befriedigenden Antworten parat, weil sie mehr moderiert und informiert, als dass sie sich positioniert. Meines Erachtens sind Antworten tragfähig, wenn hinter ihnen ein Mensch steht, der ein Bekenntnis vertritt, der eine Meinung hat. Dass Sie im Religionsunterricht als Person gefordert sind, zeigt auch eine aktuelle Studie. Gemeinsam mit Friedrich Schweizer habe ich 2021 eine empirische Arbeit des Theologen Markus Mürle herausgegeben: „Wie effizient ist Gott?“ Sie untersucht, welchen Zugang Berufsschüler*innen zu Gott und zur Religion haben, und zeigt auf, dass die Jugendlichen durchaus theologische Fragen stellen und Positionen erwarten. Damit knüpft diese Studie eben nicht an die Forschungstradition an, die diese Schüler*innengruppe meist mit einem gewissen Befremden als religiös defizitär betrachtet.

Ich bin der Meinung, dass Religionsunterricht von Menschen erteilt werden muss, die sich positionieren, die ein Bekenntnis haben.

Georg Wagensommer

Heute bekennen sich immer weniger Menschen zu einer Konfession. Wie wird Religionsunterricht 2050 aussehen? Keine Ahnung! Ich war letzten Herbst auf einer Tagung, die sich genau damit beschäftigte. Wir waren etwa 25 Wissenschaftler*innen – und es gab sehr viel unterschiedliche Statements. Da ist eine große Bandbreite an Meinungen und Perspektiven, allein im deutschsprachigen Raum. So viel kann man festhalten: Religionsunterricht wird nicht mehr wie im Jahr 1950 sein. Damals hatten wir in Deutschland eine Bikonfessionalität, mindestens 90 Prozent derBevölkerung war entweder katholisch oder evangelisch. Heute liegen wir bei diesen Kirchenmitgliedschaften bei etwa 50 Prozent. Nach einer von der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Katholischen Kirche in Auftrag gegebenen Studie wird sich die Mitgliederzahl der beiden Kirchen bis 2060 sogar halbieren. Und das ist jetzt die Herausforderung, wie Religionsunterricht da strukturiert und gestaltet wird. Vor dem Hintergrund einer Pensionierungswelle und des Fachkräftemangels, den wir schon haben. Und unter der Voraussetzung von religiöser und kultureller Vielfalt.

Ist Konfessionslosigkeit Teil der religiösen Vielfalt? Die Frage ist eher: Was ist Konfessionslosigkeit? 2014 gab es eine Studie an der Universität Bonn und der Technischen Universität Dresden zu Religionsunterricht an den Berufsschulen in den neuen Bundesländern. Da gab es Klassen, die zu hundert Prozent konfessionslos waren und von evangelischen oder katholischen Religionslehrer*innen unterrichtet wurden. Und trotzdem blieben die Schüler*innen im Unterricht. Warum? Weil die traditionelle Zuordnung zu einer Konfession im Osten nicht mehr da ist. Religion ist dort nicht „evangelisch oder katholisch“, sondern Religion ist die Auseinandersetzung mit theologischen Zusammenhängen, Grenzerfahrungen, Sinn. Und daran sind junge Menschen sehr interessiert.

Ist Ethikunterricht die Antwort darauf? Es ist ein typischer Ausdruck unserer Lebenswelt, sich gegen eine religiöse Orientierung zu entscheiden. Und ja, es gibt die These, dass das Bekenntnis zur Konfessionslosigkeit als Bekenntnis zu werten ist. Ethikunterricht ist eine mögliche Antwort darauf. Ich bin ein großer Fan davon, dass Ethikunterricht angeboten wird, genauso wie jüdischer und islamischer Religionsunterricht. Allerdings fehlen heute auch schlicht die Fachkräfte, um flächendeckend Unterricht für die einzelnen Konfessionen zu ermöglichen. Eine Lösung könnte sein, dass es einen christlichen Religionsunterricht gibt, einen, der konfessionell kooperativ, also gemeinsam von katholischer und evangelischer Kirche angeboten wird. Das Modell hierfür gibt es bereits und es könnte generell übertragen werden. Zudem ist die Gruppe der Konfessionslosen sehr inhomogen. Ein Beispiel: Vor wenigen Wochen trat einer meiner Berufsschüler aus dem Religionsunterricht aus. Er ist im Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) aktiv, geht mit seinen Eltern in den Gottesdienst – und nun tritt er aus der Kirche aus. „Warum?“, fragte ich. Nun, ein ihm bekannter Steuerberater sagte ihm, dass er so Geld sparen könne. Wahrscheinlich war seine persönliche Bindung an die Institution Kirche nicht besonders ausgeprägt. Formal ist er jetzt also konfessionslos. Persönlich hat er ein Bekenntnis. Und mit Sicherheit unterscheidet sich dieser Karlsruher Schüler von jenen in Dresden, die zu 70 Prozent ohne religiöse Prägung aufgewachsen sind. Einer meiner Kollegen vertritt auch die These, dass Menschen konfessionslos seien, weil ihnen die Religion auf keine relevante Frage mehr Antworten bietet. „Konfessionslos“ heißt dabei wohl, nicht nur aus der Kirche ausgetreten, sondern schlicht nicht interessiert zu sein.

Was heißt das für den Religionsunterricht der Zukunft? Meiner Meinung nach kann es nur mit gemeinsamen Konzepten gelingen, einen flächendeckenden Religionsunterricht anzubieten und die Abmeldezahlen niedrig zu halten. Das gilt besonders für Berufsschulen, an denen Religion ein Wahlpflichtfach ist und Ethikunterricht als Alternative oft nicht angeboten werden kann. Wenn ich als junger Mensch die Wahl habe, einen Religionsunterricht zu besuchen, der nicht meiner Konfession entspricht, oder lieber zu shoppen oder zu chillen – na, dann entscheide ich mich im Zweifel für Letzteres. Wenn alternativer Unterricht in Ethik oder anderen Konfessionen angeboten würde, wäre die Situation meist eine andere. Das ist schlicht so.

Was mich auch sehr interessieren würde, wäre eine Arbeit zur Frage nach Sinn.

Georg Wagensommer

Welche Dissertationen würden Sie in dem Kontext gerne mal betreuen? Aktuell betreue ich eine Dissertation, die absolut meinen Nerv trifft: Es geht um die Fragen nach Leben und Tod im Kontext der neuen, generalistischen Pflegeausbildung. Diese unterscheidet nicht mehr zwischen Altenpflege, Kinderkranken- oder Krankenpflege, sondern es gibt einen übergreifenden Bildungsplan. Die Themen „Tod und Vergänglichkeit“ sind ein Teil davon. Die Dissertation untersucht, wie der Bildungsplan diese Grundfrage des Menschen aus Sicht der Auszubildenden aufgreift. Das enthält zwei Aspekte, die für mich wichtig sind: Religion als Auseinandersetzung mit den Grenzfragen des Lebens und Religion mit Blick darauf, was Schüler*innen wichtig ist. Was mich auch sehr interessieren würde, wäre eine Arbeit zur Frage nach Sinn. Speziell für Jugendliche sind Sinnfragen zwar hoch relevant, aber sie scheinen nicht unbedingt religiöse Relevanz zu haben. Das heißt, es bedarf nicht notwendig kirchlicher Angebote, um Sinnhaftigkeit zu erleben. Ich habe in diesem Zusammenhangmal den Begriff „religiöse Touristen“ gelesen. Jugendliche bedienen sich verschiedener religiöser, spiritueller Angebote. So entsteht ein individuell zusammengestelltes Gebilde, ein Patchwork, auch hinsichtlich der Antworten auf Sinnfragen. Das zeigen die Sinus-Milieus immer wieder und ich habe es in meiner Habilitationsschrift durch Empirie nachgewiesen. Das ist keine Kritik an diesem Umstand und hierin sehe ich auch keinen Ausverkauf des Christentums. Es ist lediglich eine Optionsvielfalt, die sich hier zeigt und die aus einer Vielgestaltigkeit der Gegenwart folgt.

Welche Rolle spielen Werte im Religionsunterricht heute? Heute sind Wertefragen wieder ein Thema in Kirche, Theologie und Religionspädagogik. Das ist wichtig, um am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben, um sich nicht selbst auszuschließen. Dafür müssen wir wissen, was Menschen umtreibt, was Gesellschaft umtreibt. Die Frage ist: Wie greift man das auf? Und welche Werte haben Schüler*innen? Da ist die Orientierung im sozialen Nahbereich: Familie und Peergroup. Und Prosozialität ist ein wichtiger Wert – sofern sie nicht zulasten des eigenen Ichs geht: „Ich engagiere mich gern für dich, wenn es keine Nachteile für mich beinhaltet.“ Als Lehrkraft muss ich diese Wertorientierungen wahrnehmen, um der kommunikativen Anschlussfähigkeit willen. Aber kann ich destruktive Wertorientierung beeinflussen – mit ein oder zwei Stunden Religionsunterricht pro Woche? Da tut es gut, bescheiden zu sein. Kinder und Jugendliche haben ein feines Sensorium dafür, wenn man ihnen sagt, was sie denken sollen. Pestalozzi hat so schön gesagt, man solle sich vor dem „Maulbrauchen“ hüten, also davor, mit Worten zu belehren, und stattdessen lieber „mit Kopf, Herz und Hand“ vorleben, was wichtig ist. Der Unterricht sollte viele Sinne ansprechen und an das anschließen, was für Kinder oder Jugendliche von Bedeutung ist.

(Interview: Rebekka Sommer)

Artikel im Magazin ev.olve #01

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