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Professorin Silke Kaiser

"Der Ganztag braucht ein Fachkräftegebot. Gerade für Grundschulkinder ist die ganztägige und pädagogisch hochwertige Bildung, Betreuung und Erziehung unverzichtbar."

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Was ist ein guter Ganztag?

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Die große Frage: Es antwortet Prof.in Dr.in Silke Kaiser, Kindheitspädagogik

Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander.

Silke Kaiser

Wann ein Ganztag gut ist, lässt sich klar sagen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch auseinander. Die Politik, konkret die Kultusministerkonferenz, hat eine lange Liste von Leistungen erstellt, die der Ganztag erbringen soll: Er soll der Heterogenität der Schüler*innen Rechnung tragen, er soll integrativ, inklusiv und ganzheitlich bilden, er soll die Persönlichkeitsentwicklung fördern und noch einiges mehr. Ganz zentral ist die Erwartung, dass der Ganztag dabei helfen soll, Herkunft und Bildungserfolg zu entkoppeln. Das ist in Deutschland ein massives Problem: Kinder aus sozial benachteiligten Familien werden seltener für das Gymnasium empfohlen – bei gleicher Leistung. Hinter der Hoffnung, dass der Ganztag das stark segregierende deutsche Bildungssystem aufbrechen könnte, steht also auch der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit. Es gibt Forderungen, Grundschulen in benachteiligten Wohnquartieren mehr Geld und Personal zuzuteilen. Damit könnten Kinder mit schlechteren Startbedingungen bessere Bildungschancen bekommen. Studien zeigen, dass ein für alle Schüler*innen verpflichtender Ganztag hierfür die beste Lösung ist. Ist die Ganztagsbetreuung freiwillig, wird sie nämlich überwiegend von sozial bessergestellten Familien in Anspruch genommen. Kinder aus Familien mit weniger Zugang zu Bildung fallen leicht durch das Raster.

Silke Kaiser, Foto: Marc Doradzillo

Eine weitere Hoffnung teilen die Kultusminister*innen mit vielen Eltern: Ganztagsschule soll helfen, Familie und Erwerbsarbeit besser miteinander zu vereinbaren. Als während der Corona-Pandemie Kitas und Schulen geschlossen waren, haben wir gesehen, dass es immer noch oft die Mütter sind, die diese Doppelrolle erfüllen müssen. Ab 2026 sollen Familien den gesetzlichen Anspruch haben, ihre Kinder im Grundschulalter an drei bis vier Tagen pro Woche sieben oder acht Zeitstunden lang betreuen zu lassen – beginnend mit den dann neu eingeschulten Kindern.

Ganztagsschule soll helfen, Familie und Erwerbsarbeit besser miteinander zu vereinbaren.

Silke Kaiser

All das kann aber nur funktionieren, wenn in den Grundschulen viele unterschiedliche Berufsgruppen gut zusammenarbeiten und qualitativ hochwertige Bildungsangebote unterbreiten: angefangen bei den Lehrkräften über Erzieher*innen bis hin zu Kindheits-, Heil- und Sozialpädagog*innen. Der Ganztag braucht ein Fachkräftegebot. Gerade für Grundschulkinder ist die ganztägige und pädagogisch hochwertige Bildung, Betreuung und Erziehung unverzichtbar. Leider werden in Deutschland nicht genügend Fachkräfte ausgebildet. Schon vor der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsschulplatz gibt es hier akuten Fachkräftemangel – und bezahlt werden diese Berufsgruppen immer noch schlecht. Dadurch sind die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten, nicht befriedigend. Es geht nicht nur ums Geld: Ihnen würde ein guter Ganztag Rahmenbedingungen bieten, in denen sie ihren fachlichen Ansprüchen an die Arbeit mit Kindern gerecht werden können. Beim Ganztagsangebot in den Kitas haben wir gesehen, dass der quantitative Ausbau häufig zulasten der Qualität ging. Das darf sich in den Grundschulen nicht wiederholen. Denn eine gute Ganztagsbetreuung kann manches kompensieren, was Familien manchmal nicht schaffen: den Kindern beim Lesen, Rechnen, Deutschsprechen helfen beispielsweise. Mindestens so wichtig wie die Förderung der kognitiven Fähigkeiten finde ich allerdings, die Kinder bei ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung zu unterstützen – und da sehe ich großes Potenzial für den Ganztag.

Kinder möchten gefragt werden, mitreden dürfen und den Ganztag mitgestalten.

Silke Kaiser

Solche Erwartungen dürfen natürlich nicht dazu führen, dass die Kinder überfordert werden und acht Stunden Ganztagsschule als Stress erleben. Deshalb ist es wichtig, die Kinder selbst zu fragen. Dazu gibt es noch nicht viele Studien. Ich führe gerade mit Masterstudierenden ein Lehrforschungsprojekt durch, in dem wir auch mit Kindern Interviews führen. Die wichtigste Frage ist für mich dabei: Was brauchst du, damit du dich im Ganztag wohlfühlst? Aus einer anderen Untersuchung von Bastian Walther, Iris Nentwig-Gesemann und Florian Fried gibt es schon Ergebnisse: Kinder möchten gefragt werden, mitreden dürfen und den Ganztag mitgestalten. Damit sie gerne in die Einrichtung kommen, ist es wichtig, dass sie ihre Beziehungen zum pädagogischen Personal als positiv erleben. Sie wollen sich respektiert und emotional gestärkt fühlen.

Aber die Erwachsenen sollen auch nicht immer beobachten und lenken. Kinder brauchen „geheime“ Orte, Verstecke, wo sie auch mal unter sich sind, frei spielen können. In unserer Gesellschaft ist Kindheit stark verinselt und pädagogisiert. Das kann der Ganztag aufbrechen, denn es steht ja mehr Zeit zur Verfügung. Und diese Zeit kann im besten Fall gemeinsam mit den Kindern geplant werden. Also nicht unbedingt: Früh morgens Schule, dann Hausaufgaben und erst dann darf gespielt werden. Im sogenannten rhythmisierten Ganztag könnte die Schule später anfangen, längere Pausen zum Beispiel für Freispiel und Entspannung haben, Angebote für die sozial-emotionale Bildung könnten gleichberechtigt neben kognitiver Bildung stehen und Bildung für Kopf, Herz und Hand ermöglichen.

Der Ganztag hat also viel Potenzial. Aber damit wir dieses Potenzial ausschöpfen können, müssen wir viel bessere Rahmenbedingungen schaffen.

(Protokoll: Stefanie Hardick)

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