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Professor Dirk Oesselmann

Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Gemeindepädagogik, Religion und Soziale Diakonie; Entwicklungszusammenarbeit, Globales Lernen, Interreligiöses-ökumenisches Lernen; Lateinamerika, Brasilien; Gemeinwesenarbeit, Community Organizing

zur Person

Vertrautes Terrain verlassen – neue Perspektiven eröffnen

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Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dirk Oesselmann

17 Jahre leben und arbeiten in Brasilien: Das hat Dirk Oesselmann geprägt. Er ist seit 2005 Professor für Theologie mit Schwerpunkt Gemeindepädagogik – und inzwischen auch Beauftragter für Internationalisierung an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Er weiß, wie wichtig internationale Begegnungen sind.

 

Herr Oesselmann, was haben Sie aus Ihrer Zeit in Brasilien mitgenommen? Für mich war es ein großer Sprung: 1987 bin ich aus dem beschaulichen Marburg, wo ich studiert habe, nach São Paulo gezogen, in eine Großstadt mit etwa 20 Millionen Einwohnern. Brasilien hat mich grundlegend verändert. Wenn ich Portugiesisch spreche, habe ich eine ganz andere Körpersprache, gestikuliere viel. Aber vor allem habe ich meinen Umgang mit Unbekanntem, Ungewohntem verändert. Ich nehme Unterschiede wahr, wie gutes Leben gelebt und interpretiert wird. Ich lasse sie auf mich wirken und versuche, sie nicht abzuwehren oder abzuwerten. Ich möchte die Hintergründe verstehen. Ich sehe mich als Brückenbauer zwischen verschiedenen Kulturen. Das ist auch für meine Arbeit als Wissenschaftler entscheidend.

Die Hintergründe verstehen, also den Horizont erweitern – wofür ist das wichtig? Internationalisierung öffnet Perspektiven: für Menschen wie für Institutionen.Wir verlassen dabei vertrautes Terrain. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie warnt vor „the danger of a single story“. Wir brauchen also Diversität: als Perspektive auf die Realität und als Handlungsorientierung. Ich bin überzeugt, dass internationaler Austausch, internationale Begegnungen – ob in Freiburg oder irgendwoanders auf der Welt – hierfür sehr gute Bedingungen schaffen.

Sie sind seit über zwei Jahren Beauftragter für Internationalisierung an der Hochschule. Wo stehen Sie inzwischen, was ist neu? Internationalisierung ist seit 2005 ein zentrales Element der Hochschulentwicklung. Seit vielen Jahren haben wir vor allem europaweit mehr als 20 Kooperationen mit Hochschulen. Das ist für eine kleine Hochschule wie unsere eine vergleichsweise hohe Anzahl. Die Zusammenarbeit mit vielen Hochschulen ist lange gewachsen und stabil. Schwerpunkte der Kooperationen liegen in Europa, aber auch in Brasilien. Und es kommen auch neue hinzu: Im Jahr 2022 haben wir die ersten Schritte für eine Kooperation mit der University of Iowa, USA, auf den Weg gebracht. Dabei soll es um Fragen zu Menschenrechtspädagogik, Antisemitismusprävention und der Gestaltung einer humanen demokratischen Zivilgesellschaft gehen. Kooperationen im Bereich Lehre und Forschung umfassen, dass Studierende und Hochschullehrende mobil unterwegs sind. Als Ergänzung bieten natürlich digitale Medien eine großartige Chance, Kontakte vor- und nachzubereiten und sie auch langfristig zu unterhalten. Die Mehrzahl unserer Hochschulkooperationen hat zum Ziel, Studierenden Auslandssemester zu ermöglichen, ob in Oslo, Warschau, Sevilla oder auch in Belém in Brasilien. Und umgekehrt kommen Studierende aus aller Welt zu uns nach Freiburg. Zentral ist dafür das neue Studienangebot „Building transformative and sustainable societies“ in englischer Sprache, das es im Wintersemester 2022/23 zum ersten Mal gibt.

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf internationale Programme ausgewirkt? Gerade der Austausch durch persönliche Begegnungen hat während der letzten Corona-Jahre sehr gelitten. Digital ist das nicht dasselbe. Trotzdem haben wir auch dafür neue Formate entwickelt: Seit 2020 gibt es die International Talks, die öffentlich sind. Immer online. Immer Diskussionsformat. Immer gesellschaftsrelevante, internationale Themen, wie zum Beispiel „Peace-Building by Interreligious Dialogue“ mit Emmanuel Kwame Tettey vom Akrofi-Christaller Institute in Ghana. Die Talks haben neue Perspektiven in die Hochschule gebracht. Dennoch sind wir sehr froh, dass sich die weltweite Lage wieder so verändert hat, dass Studierende reisen können. Für mich ist bei allem die persönliche Interaktion zentral: Dieselbe Luft miteinander zu atmen und – auch wenn es pathetisch klingen mag – sich als Menschen gegenseitig zu erleben. Das macht was aus.

Dirk Oesselmann, Foto: Marc Doradzillo

Internationalisierung kann man also lernen? Ich denke schon … (lacht)… zum Beispiel indem wir in unseren Bachelor- und Master-Studiengängen internationale Perspektiven vermitteln – im Fachterminus gesprochen. Das meint, dass andere Lebenslagen wahrgenommen werden, aber auch der wissenschaftliche Diskurs anderer Länder. Der eigene Kontext wird nicht als einzige und einzig richtige Referenz erfahren. Dazu gehört beispielsweise das Wissen, wie soziales und pädagogisches Handeln unter Bedingungen extremer Armut möglich ist. Unsere Studierenden gehen dann mit den erworbenen Kompetenzen für ein bis zwei Semester ins Ausland. Und sie kommen verändert zurück nach Deutschland. Und, das ist mir auch noch wichtig: Natürlich erleben, analysieren und reflektieren Studierende auch in Deutschland, wie unterschiedlich Lebenslagen und Zugänge zur Realität sind. Fremdheitserfahrungen im Ausland haben allerdings meist eine besondere Intensität, sie irritieren den gewohnten Blick. Einer unserer Studierenden aus dem Bachelor Soziale Arbeit mit Internationalen Profil war in einem kleinen Ort in Paraguay – übrigens gefördert durch unsere Partnerorganisation Brot für die Welt. Der Kontakt dort mit indigenen Völkern hat ihm deutlich gemacht, dass ganz konkrete Probleme globale Hintergründe haben – und diese auch hier in die Soziale Arbeit einfließen müssen. Die Arbeit in einer Kita im schwedischen Stockholm hat einem Studierenden der Kindheitspädagogik eine Lebens- und Arbeitskultur gezeigt, die er so noch nicht kannte. Eine Studierende der Religionspädagogik/ Gemeindediakonie erlebte in einer Kirchengemeinde in Prag andere Formen von Spiritualität und Religiosität. Also ja, sie haben etwas gelernt.

Freiburg liegt in einem Dreiländereck, da liegt doch eine Zusammenarbeit mit den Nachbarländern nahe … RECOS ist das Stichwort! Unsere trinationale Hochschulkooperation mit Frankreich und der Schweiz, unser European Campus. Er ermöglicht angehenden Sozialarbeiter*innen, Kindheitspädagog*innen und Diakon*innen eine Zusatzqualifikation. Dabei geht es um gegenseitig anerkannte Studienabschlüsse und damit sowohl Arbeitschancen in den Nachbarländern als auch bessere fachliche, grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Auch Forschungsprojekte basieren auf RECOS, wie im Bereich des grenzüberschreitenden Kinderschutzes. Daraus ist das sogenannte Vademecum entstanden, ein Handbuch für Fachkräfte in französischer und deutscher Sprache. Es enthält Informationen zu den Strukturen zum Kinderschutz in beiden Ländern – zum Beispiel welche Behörde, welches Gericht ist für was und wen zuständig – und auch ein Glossar mit den wichtigen Fachbegriffen. Dafür kam ein multidisziplinäres Team aus Forschung, Lehre und Praxis unter der Federführung der Evangelischen Hochschule und ihrer Partnerhochschule ESEIS Strasbourg zusammen.

Eine globale Perspektive immer mitdenken.

Dirk Oesselmann

Muss Forschung nicht nur grenzüberschreitend, sondern auch viel weiter, und zwar global gedacht werden? Meines Erachtens muss sich jede Fachdisziplinvor allem zwei Fragen stellen, bei denen es um Nachhaltigkeit und um soziale Gerechtigkeit geht: Wie wollen wir zukünftig leben? Und wie wollen wir gemeinsam zusammenleben? Das sind Fragen, die nur global beantwortet werden können. Was ist zu tun angesichts des Klimawandels, wie kann die gerechtere Verteilung von Lebensmitteln gelingen? Welche Rolle spielen postkoloniale Machtkonstellationen und Finanzströme bei der Gestaltung globaler Gerechtigkeit? Die Hochschulrektorenkonferenz, kurz HRK, hat, wie ich finde, eine treffende Bezeichnung für die Verantwortung der Hochschulen geprägt. Sie spricht von „Agenten des Wandels“. Den Hochschulen kommt dabei vor dem Hintergrund der Globalisierung aller Lebensbereiche eine zentrale Rolle zu. Wir brauchen also Forschung – ebenso wie Bildung und Transfer – unter Einbezug unterschiedlicher Disziplinen. Doch sehe ich auch die enorme Herausforderung, eine globale Perspektive immer mitzudenken. Internationale Forschung ist kostspielig. Aber digitale Formate helfen enorm, um sich schnell über Forschungsdesigns abzustimmen und Forschungsdaten gemeinsam zu nutzen.

Für mich sind die beiden Themen Nachhaltigkeit und Internationalisierung untrennbar miteinander verknüpft.

Dirk Oesselmann

Sie waren mehrere Jahre Nachhaltigkeitsbeauftragter der Hochschule. Sehen Sie hier eine Verbindung zur Internationalisierung? Für mich sind die beiden Themen untrennbar miteinander verknüpft. Auf der institutionellen Ebene wollen wir energetische Selbstversorger sein. Wir sorgen in der Hochschule für nachhaltigen Energie- und Papierverbrauch. Unser im August 2022 wiedereröffnetes Hochschulgebäude wurde nach modernsten Energiestandards saniert. Auf der thematisch-inhaltlichen Ebene geht es um nachhaltiges und zukünftiges Leben – das habe ich vorhin schon angedeutet. Wir können an verschiedenen Stellen ganz konkrete Beiträge leisten, zum Beispiel in unserem Stadtteil. Studierende engagieren sich hier in der nachhaltigen Quartiersarbeit in Freiburg-Weingarten, in dem sich die Hochschule befindet. Lebendige Stadtteilarbeit gehört zum Pflichtprogramm, wenn es um internationale Perspektiven geht. Das können auch kleine Projekte für einen Tag sein, wie es etwa „Rundum“ gewesen ist, organisiert mit Einrichtungen in der unmittelbaren Hochschulnachbarschaft. Eingeladen waren Kinder mit ihren Familien aus dem Stadtteil Weingarten, wo ja Menschen aus mehr als 80 Nationen leben. Man konnte lernen, wie aus regionalen und saisonalen Früchten Saft gepresst wird, welche Kräuter es gibt und was man mit ihnen in der Küche anfangen könnte.

Neben Internationalisierung und Nachhaltigkeit gibt es ja noch eine dritte Ebene … Ja, und zwar die politische; da sind wir im Nachhaltigkeitsrat der Stadt Freiburg vertreten. Und um einen Blick auf das „große Ganze“ zu werfen: Unsere Internationalisierungsstrategie orientiert sich an den Vorgaben von Baden-Württemberg; die Landesregierung hat spezielle Indikatoren für Nachhaltigkeit entwickelt. Auch die von den Vereinten Nationen verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele, die 17 Sustainable Development Goals der UN, sind mit diesen Indikatoren verknüpft. Nicht zuletzt werden diese UN-Ziele bei uns in den Studiengängen sehr bewusst angesprochen. Alles zusammengenommen entsteht dadurch ein wichtiger Raum als Hintergrundfolie globaler Zusammenhänge für den internationalen Austausch. Kurz zusammengefasst heißt das: Wir sind aktiv auf institutioneller, inhaltlicher, politischer und lokaler Ebene.

Die brasilianischen Studierenden haben von ihren Erfahrungen mit sozialer Begleitung von Jugendlichen in Slums berichtet.

Dirk Oesselmann

Passt Nachhaltigkeit damit zusammen, international unterwegs zu sein? Zugespitzt gefragt: Darf man denn noch fliegen? Die Evangelische Hochschule plädiert für verantwortungsvolles, nachhaltiges, sogenanntes „grünes“ Reisen, wo es möglich ist, also zum Beispiel per Zug. Hierfür kann es eine pauschale Förderung durch Erasmusgelder geben. Aber uns ist auch klar, dass interkontinentale Ziele nicht – oder zumindest nicht in der verfügbaren Zeit – „grün“ erreichbar sind. Also ganz ohne Fliegen geht es nicht. Deshalb kommunizieren wir möglichst oft digital und vernetzen uns auch auf diesem Weg.

Schlägt Ihr Herz immer noch für Brasilien? Und wie! Ganz besonders habe ich mich gefreut, als nach mehr als zwei Jahren im Juni 2022 zum ersten Mal wieder eine Studiengruppe aus Brasilien zu Gast an der Hochschule war. Die Incomings trafen unsere regulären Studierenden und haben sich als Peers gegenseitig entdeckt. Und ebenso kamen Hochschullehrende zusammen. So etwas bringt neue Energie, es öffnet inhaltlich neue Türen, um sich für eine globale Solidarität zu engagieren. Die brasilianischen Studierenden haben von ihren Erfahrungen mit sozialer Begleitung von Jugendlichen in Slums berichtet. Diese Momente sind es, die Perspektiven öffnen.

(Christine Hohlbaum)