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Die grosse Transformation

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Was sind die Bedingungen für eine gesellschaftliche Transformation? Damit setzt sich der Soziologe Berthold Dietz in Form eines fiktiven Streitgesprächs auseinander. Seine These: Sind der Organisationsgrad und die Widerständigkeit von Berufstätigen hoch, stehen die Zeichen für Veränderungen eher auf Erfolg.

Vortrag A: … und so also zum Schluss, lassen Sie mich zusammenfassen: Die Sozialwirtschaft steht in der Wertschöpfungshierarchie des Landes ganz unten. 2018, also vor Corona, machte die Industrieproduktion mit 25,5 Millionen Beschäftigten einen Umsatz von 5870 Milliarden Euro. Die Wertschöpfung pro beschäftigte Person betrug 230 Euro. Die Humandienstleistungen schafften mit knapp 14,5 Millionen Beschäftigten gerade einmal einen Umsatz von 204 Milliarden Euro, also eine Wertschöpfungsquote von nur rund 14 Euro je beschäftigte Person.

Den meisten Berufen in diesem Dienstleistungsbereich fehlt es an Attraktivität mangels „Wertigkeit“, so die gängige Meinung. Dem Industrieland Deutschland wird aber mit der Digitalisierung und dem Energiewandel ein weiterer Strukturwandel bevorstehen, der den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat vor ganz neue Herausforderungen stellt. Zugleich braucht eine alternde Gesellschaft in den nächsten 20 Jahren eine gut strukturierte und gut funktionierende Sozialwirtschaft, ein nicht unerheblicher Teil des privaten Konsums wird verstärkt in soziale Versorgung und Dienstleistungsangebote gehen.

Gerade vor dem Hintergrund demografischer Herausforderungen stellen sich nicht nur enorme Aufgaben, sondern es bieten sich auch Chancen für einen Umbau von einer Industrie hinzu einer Humandienstleistungsgesellschaft. Dabei geht es weniger um das Verschieben volkswirtschaftlicher Ressourcen und Strukturen, sondern um die Integration von Leistungen in wertschöpfungsfähigere Strukturen in einer Art transsektoralen Synergetisierung. Die Schlüsselfaktoren guter Personalarbeit sind ein Ausgangspunkt für eine professionelle Entwicklung des Sozialen im Nicht-Sozialen, die nicht die Ausgabenkontrolle und Wirtschaftlichkeit in den Mittelpunkt stellt, sondern den Menschen in seiner Sozialräumlichkeit partizipativ in den Mittelpunkt von Sozialpolitik rückt. Sozialpolitik sollte hierbei nicht als klassisch kapitalistischer, antagonistischer, sondern als ein engerer und symbiotischer „Schatten“ einer geforderten, globalen Post-Wachstumsökonomie verszanden werden. Und es sollte hier nicht gelten: „Was darf es maximal kosten?“, sondern: „Whatever it takes!“ Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger, ein Ernstnehmen von Humandienstleistungen als Koproduktion, über die eine Identifikation mit dem Gemeinwesenerst möglich wird. Wir brauchen eine „Resozialisierung“ des Sozialstaats, dessen Orientierung an den Erfordernissen einer Industriewirtschaft immer weniger trägt. Er hat sich stattdessenan den Erfordernissen der Menschen in ihrer Lebenswel und ihrer Biografie zu orientieren. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Beifall.

Arbeitszeit und Freizeit sind erbitterte Konkurrenten.

Berthold Dietz
Prof. Dr. Berthold Dietz, Foto. Bernd Schumacher

Wortmeldung B: Vielen Dank für Ihren überzeugenden Vortrag. Aber mir war das am Schluss doch etwas zu abstrakt. Sollten wir nicht kleiner beginnen? Ich meine, Sie sprechen von Herausforderungen einer alternden Gesellschaft und einer gut strukturierten Sozialwirtschaft. Jeder disruptive Epochenumbruch hat nicht nur die Ressourcen, mit denen wir arbeiten und Arbeit gestalten, verändert, sondern auch die Einstellung und Haltung zu ihr. Ich sehe aber nicht, dass sich unsere Haltung zu Arbeit ändert; im Gegenteil, manche fordern ja Mehrarbeit, um schon mal den drohenden Wohlstandsverlust auszugleichen. An Einstellungsänderungen zur Arbeit herrscht allenthalben Mangel.

A: Oder der Mangel an Einstellungsänderung ist Ausdruck dessen, dass etwas nicht stimmt mit unserer Arbeitswelt. Die Menschen gehen seit zwanzig Jahren von einer Krise in die nächste, die die ökonomischen Unsicherheiten immer in und mit sich trägt. Internetwirtschaft und Big Data, Finanzmarktkrise, Geflüchtetenkrise, Digitalisierung, Brexit und EU-Krise, Coronapandemie, jetzt Inflation, Krieg in der Ukraine und Energiekrise… Wir können auch früher anfangen, wenn Sie wollen. Sie kennen Maslow?

B: Ja, wenn auch nicht persönlich. Wenn die Unsicherheiten zunehmen, braucht es eine Ordnung, eine stabile Auffangstruktur wie die tägliche Arbeit, ist schon klar. Woher soll die Sicherheit aber kommen in einer Arbeitswelt, die alle fünf Jahre für die Modernisierungsverlierer*innen noch einen obendrauf packt?

A: Und dennoch: Wenn die Ungewissheiten um uns herum zunehmen, können vertraute Sinnsuchen – und die meine ich bewusst im Plural! – nicht schaden. Die gibt’s in einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft normalerweise dort, wo wir arbeiten und etwas leisten wollen. Normalerweise. Viele arbeiten aber nicht so, wie sie wollen und wie sie können. Und viele arbeiten über ihre Grenzen hinaus, vor allem ihre gesundheitlichen. Viele arbeiten überhaupt nicht, schon gar nicht das, was sie arbeiten wollen oder könnten, da gebe ich Ihnen recht. Aber jetzt beginnen wir doch mal mit den „low hanging fruits“, also der Arbeitswelt, die wir am schnellsten erreichen, nämlich die um uns herum. Wir müssen herausfinden, welche Bedeutungen – im Plural! – die Menschen in der Arbeit suchen – im Unterschied oder in Ergänzung zur Arbeit. Das käme schon einer mittleren Revolution gleich.

B: Entschuldigung, wenn ich blöd frage, aber ist das nicht schon seit Marx als Dummheit entlarvt worden – die Revolution aus der Mitte der Mehrheitsgesellschaft heraus?

A: Wie kommen Sie denn darauf? Nee, also Entschuldigung, da gerät etwas durcheinander. Marx hoffte gerade nicht auf die träge und korrumpierte „Mitte der Gesellschaft“, damals für ihn die Bourgeoisie. Gut, die Arbeiterschaft mag zahlenmäßige Mehrheit gewesen sein, aber keine Mehrheitsgesellschaft im heutigen, prägenden Sinne. Und ja, er hat auch den extremen Rändern misstraut … hätte er mal machen sollen. Für ihn waren die Massen immer arm, ein Systemzwang der Verhältnisse. Aber es ist ja auch leicht, 150 Jahre später klüger zu sein. Dabei sind wir trotz Wohlstand heute im übertragenen Sinne ärmer dran als die Arbeiter*innen zu Marx’ Zeiten. Wir sind nicht nur entfremdet und müssen uns nur die Ergebnisse unserer Arbeitskraft wieder aneignen. Nein, wir sind auch noch systembeherrscht, versklaven uns konsumistisch selber und müssen erst einmal den zurückblickenden Abgrund – mit Nietzsche gesprochen –aushalten, begreifen und überwinden. Zu einer weit- und tiefgreifenden Transformation, wie wir sie schaffen müssen in den nächsten 30 Jahren, brauchen wir Milieus, die flexibel sind, positive Bildungserfahrungen haben und auch den ökonomischen Spielraum, Dinge auszuprobieren, vorzuleben und durchzusetzen. Und das sind nicht die Menschen an der Tafel, so leid es mir tut, diese Feststellung machen zu müssen. Ich hätte auch lieber die Selbstermächtigung und Befreiung der Betroffenen in eigenem Interesse, aber wir sind als Klassengesellschaft zu verfestigt, um ein solches Machtexperiment zu wagen, wenn Sie mich fragen. Mir geht’s auch nicht um Revolution mit Mistgabeln und Maschinenstürmerei, sondern mit Zeit.

B: Mit … Zeit? Soso.

A: Ja, mit Zeit. Unterschätzen Sie nicht, welch’ mächtiges Instrument Zeit sein kann, ein Machtkonzept. Zeit war immer eine unterschätzte Konstante, genauer, wie man mit ihr umging und was dieses Umgehen auslöste. Die westliche Moderne baute ihren Arbeitsbegriff und letztlich ihren Wohlstand auf zwei Fundamenten auf: Das Konzept der bürgerlichen Familie und das des nationalen Wohlfahrtsstaats, das eine als Leitbild, das andere zur Schadensminimierung und Pazifizierung. Beide Institutionen sind am Ende, entlarvt beziehungsweise überfordert. In die sich auftuende Lücke ist schon längst der Konsum getreten. Das musste er auch, sonst hätte eine zunehmende Entfremdung von der Arbeit diese Wirtschaftsform schon längst ad absurdum geführt. Konsum nährt sich aus Bildung und Einkommen, verbraucht aber eben Zeit, Freizeit. Beides konkurriert nun in einer neuen Form von Klassengesellschaft, in der das Unterscheidungs- und Spannungsmerkmal nicht mehr Besitz ist, sondern die Möglichkeit, Zeit zum Einkommenserwerb und freie Zeit in einer sinnvollen und sinnstiftenden Balance zu halten. Und lassen Sie sich nicht von Begriffen wie Work-Life-Balance schön sanft und wellnessmäßig in die Irre führen. Die Arbeitszeit und die Freizeit streben nicht nach Balance, sie sind erbitterte Konkurrenten und wollen beide den größten Teil vom Tages- oder Wochenkuchen. Immer. Koste es, was es wolle.

Zeit ist ein Faktor, der in der Wachstumsökonomie eine ebenso wichtige Rolle spielt wie andere natürliche Ressourcen.

Berthold Dietz
Prof. Dr. Berthold Dietz, Foto. Bernd Schumacher

B: Aber wenn wir letztlich Vereinbarkeit anstreben sollen, was ist dann der Antagonismus? Jede Gesellschaft lebt doch auch vom unlösbaren Widerspruch unvereinbarer sozialer Rechte und Statusdivergenzen. Richtig?

A: Richtig. Ach, wie schön, Sie suchen den unvereinbaren Widerspruch? Er liegt vor Ihren Augen: Gerade im Konsum sind wir ja gespalten. Konsumklassen, die sich nicht nur über Statuskonsum voneinander abgrenzen, sondern gerade auch in der Zeitsouveränität, die man aufwenden muss, um beim Konsumieren mithalten zu können. Denken Sie an Bourdieu oder Vester.

B: Ja, ach die, stimmt. Aber noch mal: Wo ist der Antagonismus? Es soll doch wohl nicht ernsthaft hier behauptet werden, Vereinbarkeit oder irgendeine Work-Life-Balance sei derSchlüssel zur Auflösung aller sozialen Widersprüche und der Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft?

A: Gutes Argument, stimmt. Das ginge zu schnell. Vielleicht sollten wir erst „sinnvolle Balance“ besprechen. Sinnvoll oder sinngebend könnte sein, was mindestens nicht individuell krank macht, über einen selbst hinausgeht, sozial- und auch gemeinwohlgerichtet und demokratisch ist, also lebensweltlich trägt. Man könnte auch kurz sagen: Alles, was uns nicht wieder zur Ware macht oder uns in unserer gegenwärtigen Warenförmigkeit belässt.

B: Aber dann gehörte ja auch der Topmanager zu den Unterdrückten, denen die Balance vorenthalten ist.

A: Warum nicht? Wenn er noch dazu ein bisschen gemeinwohlorientiert denkt und handelt.

B: Cool! Und der Klassenkampf?

A: Kampf um die Ressource Zeit. Wer über seine Zeit einigermaßen frei verfügen kann, ist ein Privilegierter auf Kosten derjenigen, die im Hamsterrad stecken und rennen.

Weiterlesen im Magazin “NEU”, Heft #02

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