ev.olve - 02/2022
A: Oder der Mangel an Einstellungsänderung ist Ausdruck des sen, dass etwas nicht stimmt mit unserer Arbeitswelt. Die Men schen gehen seit zwanzig Jahren von einer Krise in die nächste, die die ökonomischen Unsicherheiten immer in und mit sich trägt. Internetwirtschaft und Big Data, Finanzmarktkrise, Ge flüchtetenkrise, Digitalisierung, Brexit und EU-Krise, Corona pandemie, jetzt Inflation, Krieg in der Ukraine und Energiekri se … Wir können auch früher anfangen, wenn Sie wollen. Sie kennen Maslow? B: Ja, wenn auch nicht persönlich. Wenn die Unsicherheiten zunehmen, braucht es eine Ordnung, eine stabile Auffang struktur wie die tägliche Arbeit, ist schon klar. Woher soll die Sicherheit aber kommen in einer Arbeitswelt, die alle fünf Jah re für die Modernisierungsverlierer*innen noch einen oben drauf packt? A: Und dennoch: Wenn die Ungewissheiten um uns herum zu nehmen, können vertraute Sinnsuchen – und die meine ich bewusst im Plural! – nicht schaden. Die gibt’s in einer Arbeits und Leistungsgesellschaft normalerweise dort, wo wir arbeiten und etwas leisten wollen. Normalerweise. Viele arbeiten aber nicht so, wie sie wollen und wie sie können. Und viele arbei ten über ihre Grenzen hinaus, vor allem ihre gesundheitlichen. Viele arbeiten überhaupt nicht, schon gar nicht das, was sie arbeiten wollen oder könnten, da gebe ich Ihnen recht. Aber jetzt beginnen wir doch mal mit den „low hanging fruits“, also der Arbeitswelt, die wir am schnellsten erreichen, nämlich die um uns herum. Wir müssen herausfinden, welche Bedeutun gen – im Plural! – die Menschen in der Arbeit suchen – im Un terschied oder in Ergänzung zur Arbeit. Das käme schon einer mittleren Revolution gleich. B: Entschuldigung, wenn ich blöd frage, aber ist das nicht schon seit Marx als Dummheit entlarvt worden – die Revolution aus der Mitte der Mehrheitsgesellschaft heraus? A: Wie kommen Sie denn darauf? Nee, also Entschuldigung, da gerät was durcheinander. Marx hoffte gerade nicht auf die träge und korrumpierte „Mitte der Gesellschaft“, damals für ihn die Bourgeoisie. Gut, die Arbeiterschaft mag zahlenmäßige Mehr heit gewesen sein, aber keine Mehrheitsgesellschaft im heuti gen, prägenden Sinne. Und ja, er hat auch den extremen Rän dern misstraut …hätte er mal machen sollen. Für ihn waren die Massen immer arm, ein Systemzwang der Verhältnisse. Aber es ist ja auch leicht, 150 Jahre später klüger zu sein. Dabei sind wir trotz Wohlstand heute im übertragenen Sinne ärmer dran als die Arbeiter*innen zu Marx’ Zeiten. Wir sind nicht nur entfrem det und müssen uns nur die Ergebnisse unserer Arbeitskraft wieder aneignen. Nein, wir sind auch noch systembeherrscht, versklaven uns konsumistisch selber und müssen erst einmal den zurückblickenden Abgrund – mit Nietzsche gesprochen – aushalten, begreifen und überwinden. Zu einer weitund tief greifenden Transformation, wie wir sie schaffen müssen in den nächsten 30 Jahren, brauchen wir Milieus, die flexibel sind, po sitive Bildungserfahrungen haben und auch den ökonomischen Spielraum, Dinge auszuprobieren, vorzuleben und durchzuset zen. Und das sind nicht die Menschen an der Tafel, so leid es mir tut, diese Feststellung machen zu müssen. Ich hätte auch lieber die Selbstermächtigung und Befreiung der Betroffenen in eigenem Interesse, aber wir sind als Klassengesellschaft zu ver festigt, um ein solches Machtexperiment zu wagen, wenn Sie mich fragen. Mir geht’s auch nicht um Revolution mit Mistga beln und Maschinenstürmerei, sondern mit Zeit. B: Mit … Zeit? Soso. A: Ja, mit Zeit. Unterschätzen Sie nicht, welch’ mächtiges In strument Zeit sein kann, ein Machtkonzept. Zeit war immer eine unterschätzte Konstante, genauer, wie man mit ihr umging und was dieses Umgehen auslöste. Die westliche Moderne baute ihren Arbeitsbegriff und letztlich ihrenWohlstand auf zwei Fun damenten auf: Das Konzept der bürgerlichen Familie und das des nationalen Wohlfahrtsstaats, das eine als Leitbild, das ande re zur Schadensminimierung und Pazifizierung. Beide Institu tionen sind am Ende, entlarvt beziehungsweise überfordert. In Dabei sind wir trotz Wohlstand heute im übertragenen Sinne ärmer dran als die Arbeiter*innen zu Marx’ Zeiten. ev.olve 2 2
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