ev.olve - 01/2022

GW— Weil ich sehr gerne Religion an Schulen unterrichte! Und weil ich finde, dass junge Menschen ein Recht auf Religion haben. Religion beantwortet die wesentlichen Lebensfragen. Sie kann eine lebensverändernde Orientierung geben. Doch um mit den Schüler*innen ins Gespräch zu kommen, muss der Unterricht sie wirklich ernst nehmen. Das ist mir wichtig. Und das will ich auch meinen Studierenden vermitteln. Wie macht man das – die Schüler*in- nen wirklich ernst nehmen? GW— Kürzlich erlebte ich bei einem Schulbesuch, wie Schüler*innen über Grundgedanken des Buddhismus reflek- tiert haben. Es ging um inneren Frieden und darum, Materielles geringer zu schätzen. Nun ist es so, dass empirische Studien seit vielen Jahren zeigen, dass für Jugendliche Orientierungen aus einer sozialen, familialen und personalen Dimension überaus wichtig sind. Das heißt, mit Orientierungen aus diesen Bereichen erreichen Sie bei Teenagern – laut der Jugendstudie Baden-Württem- berg von 2020 – heute Zustimmungs- werte von fast neunzig Prozent. Und auch Frieden wird sehr hoch gewertet. Im Unterricht äußern Jugendliche dies auch und natürlich finden erst mal alle, dass Frieden wichtig ist! Das können Sie dann im Unterricht ansprechen – und die Selbstbezogenheit und den Materialismus in unserer Gesellschaft anprangern. Doch andererseits: Was wollen Jugendliche mit 17, 18, 19 Jahren darüber hinaus? Natürlich wollen sie vorwärtskommen, was erreichen. Sie wollen Geld verdienen, sich etwas kaufen. Das ist auch gut so. Meine Rolle ist dabei nicht, dass ich pädagogisch etwas einfordere, was persönlich nicht nachvollzogen werden kann. Sondern vielmehr dem nachzugehen, wie das eine mit dem anderen zusammen- gehen kann. Braucht es heute vielleicht eher eine Religionskunde statt Religionsunter- richt, um den Fragen der Jugend- lichen gerecht zu werden? GW— Nein, ich bin der Meinung, dass Religionsunterricht von Menschen erteilt werden muss, die sich positionieren, die ein Bekenntnis haben. Damit es nicht rein theoretisch um gesellschaftliche oder religiöseWerte geht, sondern immer auch um die Fragen: „Was ist mir wichtig?“, „Was glaube ich?“ Kinder machen Grenzerfahrungen. Mit demTod. Mit Träumen, die sich bewahr- heiten. Mit Verlusten durch Umzüge oder der schönen Erfahrung, dass auch am neuenWohnort Freunde gefunden werden. Dann gibt es auch Trennungen, Krankheiten, Behinderungen, Arbeitslo- sigkeit oder Schulden. Und dann fragen sie: „Mein Opa ist gestorben. Was glaubst du, wo er jetzt ist?“ oder „Mei- ne Mutter hat ihre Arbeit verloren. Wie geht es weiter?“ Da sind Sie persönlich gefragt und nicht IhrWissen darüber, was der Hinduismus im Unterschied zum evangelischen Christentum sagt. Eine reine Religionskunde hat hierzu keine befriedigenden Antworten parat, weil sie mehr moderiert und informiert, als dass sie sich positioniert. Meines GeorgWagensommer hat schon als Kind mit seinen Playmobil-Figuren ge- schichtliche und biblische Szenen nachgespielt. Seine Faszination für Religion blieb über die Schulzeit hinweg erhalten – unter anderem dank zweier Lehrer, die ihn zum Nachdenken brachten. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Religions- didaktik, berufsorientierte Religionspädagogik, Antisemitismusforschung, Unterrichtsforschung und Wertebildung. HerrWagensommer, Sie leiten den Master- Studiengang Religions- pädagogik an der EH Freiburg – und unterrichten als Religionslehrer an einer Berufsschule. Die Kombination ist ungewöhnlich. Warum tun Sie beides? Wie relevant ist Religions- unterricht heute? Ein Gespräch mit Prof. Dr. habil. Georg Wagensommer ev.olve 2 6 2 7 GeorgWagensommer

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ2MDE5