ev.olve - 01/2022
Am Freiburger Hauptbahnhof kommen jeden Tag Hunderte Menschen an. Hier werden sie mit jenen konfrontiert, deren Pläne für ein gutes Leben in Freiburg sich nicht erfüllt haben: Menschen, die betteln, die vielleicht sogar auf der Straße leben. Am Hauptbahnhof beginnt deshalb der Audioguide „Wie ein norma- ler Mensch leben – vom Alltag osteuro- päischer Migrant*innen auf Freiburgs Straßen“. Entwickelt haben ihn fünf Stu- dierende der EH Freiburg gemeinsam mit ihrer Professorin Gesa Köbberling. „Jede Station steht symbolisch für ein Thema, das im Leben wohnungs- oder obdachloser Menschen wichtig ist“, erläutert die Studentin Juliana Seibert. Ab April 2022 können sich Interessierte die Audioführung auf ihr Smartphone herunterladen. Eine gute Stunde führt die Tour über sechs Stationen durch die Stadt. Die Idee für den Audioguide entwickelte das Projektteam vor einem Jahr im Handlungsfeldseminar bei Köbberling und Fischer. „Wir haben dieses Seminar so konzipiert, dass die Studierenden eigenverantwortlich Projekte ent- wickeln können“, sagt Köbberling. Der Arbeitsschwerpunkt der Professorin für Soziale Arbeit ist die Gestaltung des Zu- sammenlebens in der Migrationsgesell- schaft. Lange arbeitete Köbberling in der Praxis, unter anderem in der Beratung von Betroffenen rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt. 2016 trat sie ihre Professur an der EH Freiburg an: „Ich möchte Studierenden vermitteln, dass man selbst gestalten kann. Dafür ist das Handlungsfeldmodul ideal.“ Raum für eigene Ideen Das Seminarthema „Sozialräumliche Perspektiven in der Migrationsgesell- schaft“ bot einen methodischen Rah- men und zugleich Spielraum für eigene Ideen. „Frau Köbberling hat uns er- mutigt, Projekte zu entwickeln, die vom Standard abweichen“, sagt die Studentin Ilaria Mastrelli. Eine Gratwanderung, wie Köbberling sagt: „Am Anfang fühlen sich viele Studierende überfordert, weil wir nicht vorgeben, was entstehen soll. Aber ohne diese Freiheit könnten sie nicht genau jene Themen und Formen finden, die sie wirklich interessieren.“ Schnell bildete sich ein Team, das Le- benssituationen obdachloser Sinti*zze und Rom*nja analysieren wollte. „Er- fahrungen aus dem Praxissemester zu Diskriminierungen waren unser Aus- gangspunkt: Wir wollten die Perspektive dieser Menschen in den öffentlichen Diskurs bringen, helfen, ihn differenzier- ter zu führen und so Diskriminierung re- duzieren“, erklärt Student Marc Cordes. Zuhören und mitreden Im Audioguide kommen einige Betroffe- ne anonymisiert selbst zuWort. Im Früh- sommer 2021 führten die Studierenden hierfür Interviews in der Pflasterstub‘ der Caritas. „Eine Person, die dort ehrenamtlich tätig ist, hat für uns ge- dolmetscht “, erzählt die Studentin Luise Siegert. Interviews mit Fachkräften der Sozialen Arbeit und Infoblöcke ergänzen die akustische Stadtführung, die vom Hauptbahnhof über die Kaiser-Joseph- Straße bis zum Stadtgarten führt. Es geht um den Alltag auf der Straße, um die Versorgung mit dem Lebensnotwen- digen, um Gesundheit, Konflikte mit Ge- werbetreibenden in der Innenstadt, um Antiziganismus und ums Betteln. Der Audioguide endet mit der Frage, was die Betroffenen sich wünschen. Student NicoWeber erklärt: „Eine Antwort wur- de zumTitel des Audioguides: ‚Ich hätte einfach gerne ein normales Leben.‘“ „Oft entstehen im Handlungsfeldmodul Projekte, die der Fachpraxis direkt nutzen“, erklärt Köbberling. Zunächst war offen, ob der Audioguide produziert werden kann. Das Bundesförder- programm „Demokratie leben!“ löste dieses Problem. „Das Programm passte ausgesprochen gut, weil der Audio- guide die demokratische Diskussion über ein Thema fördern soll, das in der Freiburger Stadtgesellschaft virulent ist.“ Die Studierenden stellten den Förderantrag selbst – eine Kompetenz, die Köbberling in ihren Seminaren ver- mittelt. „Unterstützt habe ich bei der formalen Anbindung des Projekts an unseren Forschungsverbund FIVE.“ Weitere Projektpartner*innen gewannen die gut vernetzten Studierenden selbst: den Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Freiburg, das Kontaktnetz Straßensozial- arbeit Freiburg, die Pflasterstub‘ des Caritasverbands Freiburg und Radio Dreyeckland. Zurzeit geben die Studierenden dem Audioguide in den Studios von Radio Dreyeckland den letzten Schliff. Für die zweite Jahreshälfte 2022 planen sie Veranstaltungen, um die öffentliche Dis- kussion anzuregen. „Wir möchten auch hier die Betroffenen einbeziehen. Ihnen etwas zurückgeben dafür, dass sie uns einen Einblick in ihr Leben ermöglichen“, betont IIaria Mastrelli. × Stefanie Hardick Fünf Bachelor-Studierende der Sozialen Arbeit (auf dem Bild sind drei zu sehen, v.l.n.r. Juliana Seibert, Luise Siegert, Ilaria Mastrelli) haben einen Audioguide über den Alltag osteuropäischer Migrant*innen auf Freiburgs Straßen entwickelt. Das Projekt aus dem Handlungsfeldseminar von Professorin Gesa Köbberling und Sibylle Fischer zeigt, wie Ideen für die Praxis entstehen – wenn es in der Lehre Spielräume gibt. Studierende entwickeln Audioguide ev.olve 2 4 2 5 Studierende entwickeln Audioguide
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ2MDE5