ev.olve - 01/2022

In Deutschland müssten Frauen nicht schwanger werden, wenn sie das nicht wollen. Sie haben Zugang zu effektiven Verhütungsmitteln. Warum also verhü- ten viele Frauen ohne Kinderwunsch nicht konsequent? Ein Projekt sucht Antworten. Herr Knittel, wofür ist Ihre Unter- suchung zu ungewollten Schwanger- schaften wichtig? TK— Ungeplante und vor allem unge- wollte Schwangerschaften sind individu- ell eine Belastung. Wichtig ist daher eine bessere Prävention, zumal wir als Hoch- schule mit unserer Anbindung an die Soziale Arbeit auch den Auftrag haben, Menschen zu helfen. Hierzu braucht es Forschung, um die Situation von Frauen besser zu verstehen, Bedarfe zu identi- fizieren und Unterstützungsangebote auszubauen. Aber es gibt noch ganz andere Gründe, weshalb unsere Forschung wichtig ist: InWissenschaft und auch Politik wird heutzutage zumeist davon ausgegan- gen, dass Geburten geplant sind – es dominiert das sogenannte Planungspara- digma. Angesichts von 30 Prozent un- beabsichtigten Schwangerschaften wird klar, dass dieses Verständnis zu kurz greift. Und hier ist die Forschungslage für 30 Prozent der Schwangerschaften zu dünn. Was haben Sie durch „Risk it“ heraus- gefunden? TK— Wir wissen nun mehr über die unterschiedlichen Motivlagen. Das eine sind strukturelle Hürden: Ich kann mir keine Verhütungsmittel leisten oder sie aus gesundheitlichen Gründen nicht nehmen. Hier spielen Nebenwirkungen und Skepsis gegenüber der Pille eine größere Rolle als Kosten und Beschaf- fungsaufwand. Das andere sind Fehlan- nahmen über die eigene Fruchtbarkeit: Frauen oder Paare denken, sie könnten keine Kinder bekommen, und ver- hüten nicht. Am häufigsten war es so, dass die Frauen es darauf ankommen ließen, obwohl sie keinen klaren Kin- derwunsch hatten. Es hat sich gezeigt: Die Haltung, Kinder zu bekommen, ist oft ambivalent, mehrdimensional und häufig auch widersprüchlich. Und hierzu braucht es durchaus noch mehr Forschung – vor allem auch mit Fokus auf die partnerschaftliche Perspektive. Für Ihre Auswertung kamen Frauen zwischen 20 und 44 Jahren zuWort. Müssten jüngere Frauen nicht auch berücksichtigt werden? TK— Teenager-Schwangerschaften stehen zwar medial im Vordergrund – für die Familienplanung, die ja der Schwerpunkt der zugrundeliegenden Hauptstudie ist, sind sie aber nur ein Randphänomen. Wir wissen, dass Ziel: Auf der Basis von belastbaren Daten zu Verhütung und Schwangerschaften die Situation von Frauen besser zu verstehen. Hintergrund: Studien zu Schwangerschaften in den USA und Frankreich zeigen, dass unbeabsichtigte Schwangerschaften trotz Zugang zu effektiven Verhütungs- mitteln und demWissen darüber, wie diese funktionieren, verbreitet sind. Für Deutschland gibt es bisher nur wenig Forschung zu diesemThema. Vor allem fehlen aussagekräftige Daten zum Zusammenhang zwischen unzureichender Verhütung und unbeabsichtigten Schwangerschaften. Die Sonderauswertung „Risk it“ soll helfen, diese Lücke zu schließen. Forschungsdesign: Sonderauswertung von 116 qualitativen Interviews und 14500 Fragebogen, die im Rahmen der Langzeitstudie erhoben wurden (Mixed-Methods- Ansatz). Gesamtsample: ca. 19000 Frauen zwischen 20 und 44 Jahren. Erste Ergebnisse: 30 Prozent der untersuchten 17400 Schwangerschaften waren unbeabsichtigt, z. B., weil sie zu einem Zeitpunkt passiert sind, den die Frauen so nicht gewählt haben. Bei 60 Prozent davon wurde nicht verhütet. Somit fallen 18 Prozent in die Kategorie: nicht verhütet, Schwangerschaft riskiert und unbe- absichtigt schwanger geworden. Dabei spielen Alter und Familienstand eine Rolle: Am meisten verbreitet sind unbeabsichtigte Schwangerschaften bei Frauen im Alter zwischen 25 und 30 Jahren. Über 90 Prozent der unbeabsichtigten Schwangerschaf- ten traten innerhalb einer festen Paarbeziehung ein. Zusammengefasste Gründe, nicht zu verhüten, sind a) Spielen mit einem Kinderwunsch, b) gesundheitliche Vor- behalte oder zu hohe Kosten und c) irrtümliche Annahme, nicht schwanger werden zu können. junge Frauen zumeist kompetent und konsequent verhüten. „Risk it“ bestä- tigt, dass auch für ungewollte Schwan- gerschaften die 20- bis 35-Jährigen die entscheidende Gruppe sind. Und wie gehen Sie damit um, dass für die Auswertung keine Lebens- partner*innen, also vor allem keine Männer befragt wurden? TK— Das ist bei dieser Auswertung tat- sächlich eine Lücke. Wir haben aber im Verbund mit fünf anderen Hochschulen eine weitere Studie laufen, bei der wir vom SoFFI F. Frauen und Männer gleichermaßen interviewen und die part- nerschaftliche Perspektive in den Fokus nehmen. × Jasmin Feldmann, Dirk Nordhoff Ungewollt schwanger? Frauen und Verhütung Titel: „Risk it“ – warum Frauen ohne Schwangerschaftsabsicht nicht verhüten. Sonderauswertung der BZgA-Studie „frauen leben 3. – Familienplanung im Lebenslauf von Frauen“ Projektleitung: Prof.in Dr.in Cornelia Helfferich †, Tilmann Knittel Sozialwissenschaftliches Forschungs- institut zu Geschlechterfragen im Forschungs- und Innovationsverbund FIVE an der EH Freiburg e. V. (SoFFI F.) Auftraggeberin: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Laufzeit: 05/2011 bis 12/2022 (Laufzeit von „frauen leben 3“) Drittmittel: Sonderauswertung der Langzeitstu- die „frauen leben 3. Familienplanung im Lebenslauf von Frauen“, Budget: ca. 120000 € jährlich für 2-3 Stellen (150%) Ungewollt schwanger? Frauen und Verhütung 1 4 1 5 ev.olve

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