ev.olve - 02/2022

A: Oh, doch, erheblich sogar. Sorgeberufe sind tendenziell un­ organisiert, während die Industriegesellschaft auf der Inte­ ressenorganisation aufbaut. Wer sich nicht organisiert, wird herumgeschubst und muss nehmen, was geboten wird. Agili­ tät, Mobilität und Sinnsuche sind nur Kennzeichen einer Ver­ änderung von Arbeit. Fehlbelastungen vermeiden verheißt noch nicht das Ende der Ausbeutbarkeit! Löhne und Arbeits­ bedingungen sind nicht das Ergebnis einer kompetenz oder gar diversitygerechten Strategie oder gar der Wertschöpfung, sondern Ergebnis mangelnder Widerständigkeit. Die Wert­ schöpfung ist ja wiederum auch nur Ergebnis von Widerstän­ digkeit. Wir fragen ja nicht: „Was kostet eine menschenwürdi­ ge Pflege?“, sondern: „Was ist eine solche uns als Gesellschaft wert?“ Und wenn die Antwort dann lautet: „Die Pflege ist An­ gelegenheit der Familien, des Ehrenamts, des Ichweißnicht­ was“, dann kann ich halt nicht wie die Industrie mit dem Ver­ lust von Arbeitsplätzen drohen, wenn ich meine Fachlichkeit als gesellschaftliche, also sozialstaatliche Aufgabe verkaufen will. Aber noch mal: Sozialstaatstheoretisch neige ich dem Konfliktansatz zu. 6 Wo Organisationsgrad und Widerständig­ keit höher sind, werden auch stabilere, höhere und übrigens auch gendergerechtere Löhne gezahlt. Sogenannte Sorgebe­ rufe neigen nun mal zu einem schwachen Organisationsgrad, einer höheren Ausbeutbarkeit qua Intrinsik und Verkettung des eigenen Wohls mit dem der Klient*innen. Und – nicht zu vergessen – sie unterliegen oft auch TendenzArbeitsrecht mit QuasiStreikverbot. B: Aber es gab doch jüngst Streiks von Erzieher*innen. Oder von Klinikpersonal. Das sind doch Ansätze. Warum haben die denn keine Gewerkschaften? A: Der letzte Klassenkampf hat in der Industrialisierung schlicht keine hervorgebracht. Und es wurde danach auch kei­ ne gegründet. Außer ver.di, aber ver.di ist zu groß. Wir haben bis heute keine echte gewachsene Beschäftigtenvertretung für Sorgeberufe. B: Also kämpfen wir nicht nur einen Klassenkampf, sondern auch einen Sektorenkampf, was die Durchsetzungsfähigkeit ganzer Wirtschaftssektoren und deren Einfluss auf die Ge­ staltung zukünftiger Arbeitswelten angeht. Nur wenn wir im Sozialen die Zeit und Sinnsouveränität verändern, sind wir glaubwürdig genug, auch Beispiel für andere Wirtschaftsberei­ che zu sein. A: Genau! 1 Zahlen des Statistischen Bundesamtes; DESTATIS: VGR – Volkswirtschaft- liche Gesamtrechnung 2018/2020, Mikrozensus 2 Vgl. etwa David Rosnick/MarkWeisbrot (2007): Are shorterWork Hours Good for the Environment? A Comparison of U.S. and European Energy Consumption. IJHS, 37:3, pp 405–417, July 1, 2007, https://doi. org/10.2190%2FD842-1505-1K86-9882 [Stand: 22-07-27]; François-Xavier Devetter/Sandrine Rousseau (2011): Working Hours and Sustainable De- velopment. RSE 69, 3, pp 333–355, 25 Aug 2011, https://doi.org/10.1080/003 46764.2011.563507 [Stand 22-07-27] 3 Vgl. Nils Backhaus et al. (2020): Arbeit von zu Hause in der Corona-Krise: Wie geht es weiter? In: baua: Bericht kompakt, Bundesanstalt für Arbeits- schutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. Anja-Kristin Abendroth et al. (2022): Has the COVID-19 Pandemic Changed Gender- and Parental-Status-Specific Differences inWorking from Home? Panel Evidence from Germany. 14 Feb 2022, Retrieved from osf.io/xwbzs. 4 Nach den Kommunen. 5 Wertesynthesetheorie von Helmut Klages; vgl. auch Franz Lehner (1981): Die „stille Revolution“: Zur Theorie und Realität desWertewandels in hochindustrialisierten Gesellschaften; in: Helmut Klages, Peter Kmieciak (Hrsg.): Wertwandel und gesellschaftlicherWandel; Frankfurt/NewYork 1981; S. 317ff. WolfgangWeinseis (2007): Wertesynthese – Antwort auf die Herausforderungen desWertewandels? München. 6 Ansatz, nach dem ein langfristig erfolgreicher Sozialstaat sich nur heraus- bilden kann, wenn er auf der erfolgreichen Moderation an sich asymme- trischer Interessenkonflikte beruht (Autor*innen zum Beispiel: Marshall, Lessenich, Leibfried). höhere und übrigens auch gendergerechtere Löhne gezahlt. 2 7 Die große Transformation

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