ev.olve - 01/2022
Phase der Orientierung 2002 kehrt Anke Stallwitz nach Deutschland zurück. Ihr Ab- schluss in Schottland wird als deutsches Diplom anerkannt. Das sind Türöffner: Auslandserfahrung und Diplom. Es ist trotzdem nicht leicht, Fuß zu fassen. „Doch ich hatte immer ein Gespür dafür, zur richtigen Zeit am richtigen akademischen Ort zu sein.“Wie viele andere Nachwuchswissenschaftler*in- nen bahnt sich Stallwitz ihrenWeg durch den deutschen Hochschulkosmos. Die Jobs sind inhaltlich traumhaft, gleich- zeitig schlagen ihr die Arbeitsbedingungen und -strukturen teilweise im wahrsten Sinne desWortes auf den Magen. Sie macht Erfahrungen, die ihr später helfen, im richtigen Moment „Nein“ zu sagen. Während ihrer Dissertation erhält sie ein Angebot für eine steile Karriere in derWissenschaft, von dem sie aber weiß, dass es sie überlasten würde. Sie lehnt ab. „Die harteWissen- schaftsmaschinerie, in der keine Rücksicht genommen wird, das war nicht das, was ich wollte“, sagt sie rückblickend. Umso wichtiger ist es für sie in dieser Zeit, auf andere zu hören, die ihre Qualitäten und Stärken erkennen. Stallwitz erinnert sich lebhaft daran, wie sie einmal mit ihrer jüngeren Schwester in einem Vorlesungssaal stand, lange bevor sie als Dozentin ihre erste eigene Lehrveranstaltung gab. „Ich bin zum Rednerpult gegangen und habe so getan, als würde ich jetzt eine Vorlesung halten. Und meine Schwester hat gesagt: ‚Ja, genau da kann ich mir dich gut vorstellen.‘“Während der Promotion konkretisiert sich ihre Vision einer Professur an ei- ner Hochschule für AngewandteWissenschaften mit sozialem Profil. „Genau das möchte ich“, wird sich Anke Stallwitz klar. Ankommen in Freiburg 2010 ist ein wichtiges Jahr für Stallwitz. Für ihre Promotion an der Universität Bremen untersucht sie, welche Rolle Gemeinschaftssinn innerhalb von Drogenszenen spielt. Ihre Dissertation – “The role of community-mindedness in the self- regulation of drug cultures. A case study from the Shetland Islands” – erscheint 2012. Hierfür knüpft sie thematisch an ihre Bachelorarbeit über die Heroinszene auf den Shetland- inseln an. Noch vor Abschluss der Promotion bewirbt sich Stallwitz als Professorin für Sozialpsychologie an der Evangelischen Hoch- schule Freiburg. Die Verbindung von Forschung, Praxis, Politik und Lehre an der Hochschule trifft ihreWunschvorstellungen zu hundert Prozent. Doch zunächst kommen ihr Zweifel wie „Ich bin zu jung“, „Ich kenne da keinen“, „meine Disputation ist doch erst übermorgen.“ Doch sie meistert das Bewer- bungsverfahren, überzeugt die Berufungskommission: zum Oktober 2010 wird sie auf die Professur berufen. Nach den Weichenstellungen in Schottland und den Jahren der Suche in Deutschland heißt es nun: endlich angekommen. An der EH Freiburg kann Stallwitz lehren, forschen, ihre bisherigen Erfahrungen auf eine neue Drogenszene anwenden und die Drogenpolitik und Suchtbetreuung in Freiburg mitgestalten. 2015 organisiert sie den interdisziplinären Fachtag „Safer Drug Use weiterdenken: Die Ressourcen der Freiburger Drogen- szene nutzen“ mit Fachleuten aus den Bereichen Drogenhilfe, Polizei und Strafvollzug, Politik, Medien und mit Menschen aus der lokalen Drogenszene. Es folgt ein Forschungssemester in Vancouver, Kanada. Im Au- gust 2016 ist Stallwitz im kanadischen Radio zu hören. Zudem fasst sie in Interviews mit kanadischen Zeitungen für das nicht akademische Publikum, das keine Fachzeitschriften liest oder Konferenzen besucht, Erkenntnisse aus ihrem Forschungs- semester zusammen. In Vancouver erlebt sie die größte offene Drogenszene Kanadas und begleitet sie wissenschaft- lich. Stallwitz erklärt, dass es in Gemeinschaften seltener zu Gewalt kommt, wenn die Szene einem eigenen Verhaltens- kodex folgt und Verstöße sanktioniert. Auch hier kommt ihr Modell vom Gemeinsinn zumTragen. Sie will die Gewalt bei Drogenverkaufssituationen verstehen, um sie vermeiden zu können. Mit Mitgliedern des „Vancouver Area Network of Drug Users“, einer politischen Interessenvertretung bestehend aus Konsumierenden, initiiert sie ein Peerforschungs- und Peerin- terventionsprojekt. Sie überprüft ihr Dissertationsthema an gefährlichen Orten und in vielen Gesprächen mit Menschen, von denen manche stündlich mit Gewalt konfrontiert sind und über Morde für umgerechnet 20 Euro berichtet wird: „Ich hatte in Vancouver wie auch in anderen Städten keine Garan- tie, ob die da so eine behütete junge Frau aus einem anderen Land überhaupt an sich ranlassen. Ob die mich ernst nehmen würden und bereit wären, mit mir zusammenzuarbeiten.“ Fordernd und intensiv war es überall, keineswegs reibungs- frei, doch es hat am Ende immer geklappt und „es hat sich definitiv gelohnt“. Zurück in Freiburg stellt sie fest: „Es ist nicht alles immer ‚easy peasy‘, aber es ist mein Traumjob.“ Als die Sozialpsycho- login realisiert, dass sie sich etwas festgefahren hat, hängt sie an das Forschungssemester in Kanada noch ein Jahr in Schweden dran; die EH Freiburg stellt sie dafür frei, sodass sie auf ihre Professur zurückkehren kann. An der Stockholmer Universität führt sie mit der „Swedish Drug User Union“ das Peerforschungs- und Peerinterventionsprojekt „Ljuspunkten – der Lichtblick“ zu Gewalt gegen Frauen in der Stockholmer Drogenszene durch. Danach reduziert sie ihre Professur in Freiburg auf eine halbe Stelle. Finanziell gesehen: ein Ver- lust. Mit Hirn und Herz betrachtet: ein Gewinn. Durch die reduzierte Arbeitszeit fällt es ihr leicht, neben der Lehre und dem Engagement in der Hochschulselbstverwaltung genug Zeit für Forschungsprojekte aufzubringen, die ihr wichtig sind. Aktuell konzentriert sie sich im Drogenmilieu von Malmö auf geflüchtete Jugendliche aus Afghanistan und wertet 2019 und Ende 2021 geführte Vor-Ort-Interviews aus. Zur Selbst- fürsorge gehört auch, ausreichend Zeit zur Erholung zu haben und überhaupt nicht zu arbeiten. Früher war der Samstag ein normaler Arbeitstag für Stallwitz. Heute gilt samstags: Wald stattWissenschaft. Expertise als Drogenforscherin Auf die Fragen, die sie als junge Frau bewegten, hat die Professorin über die Jahre einige Antworten gefunden. Ihre jüngsten Publikationen heißen „Love & hate in the Downtown Eastside of Vancouver: features of an unusual drug scene“ und „Gewalt gegen Frauen in der Stockholmer Drogenszene“. Die Themen ihrer Forschung sind von allgemeinem gesell- schaftlichem Interesse, sodass Anke Stallwitz immer wieder als Expertin gefragt ist. Als im Herbst 2021 die Bundesregie- rung wechselt und das Thema Cannabis-Legalisierung dis- kutiert wird, holt der RadiosenderWDR 5 in seiner Sendung „Tagesgespräch“ als sachkundige Stimme derWissenschaft Stallwitz dazu. Wer zu Diskussionen und Interviews geladen wird, wer außerhalb der Fachwelt erklärt, einordnet und ver- mittelt, wer ein prägnantes, medientaugliches Ein-Wort-Etikett angesteckt bekommt wie „Drogenforscherin“ – diese Person hat es geschafft, sich ein klares wissenschaftliches Profil aufzubauen. Der Sozialpsychologin ist es gelungen, neue Perspektiven auf internationale Drogenszenen zu eröffnen – sowohl wissenschaftlich als auch politisch. Auf lange Sicht hilft es, wenn die Forschungsfragen und Methoden der Disziplin zur eigenen Persönlichkeit passen. „Wissenschaftliche Artikel zu schreiben, theoretische und politische Konzepte zu entwickeln: Das erfüllt mich“, sagt Stallwitz. Sie ist aber auch ein kommunikativer Typ, der regel- mäßig „raus muss“, wie sie es nennt. Weil sie sowohl mit der Drogenszene als auch mit Professor*innen zu tun hat, im Radio wie auf Konferenzen spricht, muss sie sich auf ver- schiedene Zielgruppen einlassen können: DieserWechsel ist es, den sie braucht. Stallwitz ist eine offene, mutige Frau ohne Berührungsängste. Mit der Sozialpsychologie hat sie die pas- sende Disziplin für sich gefunden. Ein bisschen schwingt wohl ihre ursprünglich private Motivation mit, wenn Anke Stallwitz sagt: „Bei der Berufswahl würde ich unbedingt empfehlen, nicht dem Soll zu folgen, sondern dem eigenen Herzen.“ × Dirk Nordhoff „Es hat sich definitiv gelohnt.“ ev.olve 6 7 Anke Stallwitz
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