ev.olve - 01/2022
zu schaffen. Das betrifft übrigens nicht nur den Nachwuchs. Viele Kolleg*innen haben als erfahrene Forscher*innen eine hohe intrinsische Motivation und sagen: „Dieses oder jenes Thema interessiert mich, da will ich dran arbeiten!“ Eine wichtige Perspektive, die wir in unterschiedlichen Forschungsfeldern anbieten konnten und können, sind Graduiertenkollegs, an denen wir mit- gearbeitet haben. Das ist eine wichtige Form der Nachwuchsförderung, um Promotionsanliegen einen Ort und För- derung zu bieten. Sie haben 33 Jahre lang an einer Hochschule für Angewandte Wissen- schaften (HAW) geforscht und gelehrt. Was unterscheidet die HAW-Wissen- schaftler*innen von ihren Kolleg*in- nen an der Uni? TK— Die wenigsten Studierenden ha- ben zu Beginn ihres Studiums die HAW als Institutionen der Forschung präsent. Meine Erfahrung ist, dass gerade viele HAW-Absolvent*innen dieWissenschaft und Forschung für sich als – zunächst nicht für möglich gehaltene – sehr befriedigende berufliche Perspektive entdecken. Durch den kirchlichen Träger haben wir an Hochschulen wie der EH Freiburg viele religiös orientierte junge Menschen, die praxis- und wertorientiert Zugang zu wissenschaftlichen Frage- stellungen finden. An Hochschulen für AngewandteWissenschaften studieren viele junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie in Richtung Akademisie- rung gehen. Schon das Studium lässt sich als sozialer Aufstieg beschreiben. Finden sie dann noch denWeg in die Wissenschaft, hat das viel mit Nach- wuchsförderung aus eher bildungsfer- nen Milieus zu tun. Was hätten Sie gemacht, wenn Sie nicht in die Wissenschaft gegangen wären? TK— Ich wollte zunächst nicht in die Forschung und hatte als Jurist viele an- dere Optionen. Während meiner Hoch- schulzeit hatte ich zahlreiche Anfragen aus Bundes- und Landesministerien, entschied mich aber vor allem aus fami- liären Gründen, in Freiburg zu bleiben. Politikberatung und -gestaltung hat mich stets gereizt und auch meine For- schungstätigkeit geprägt. Was ich immer zu schätzen wusste, sind die Freiheiten, die ich alsWissenschaftler hatte. Die hätte ich in einem Ministerium so nicht mehr gehabt. Was hat Sie zur Gerontologie ge- bracht? TK— Ich habe mich bereits in meiner Schulzeit in Hamburg mit sozialen Fra- gen beschäftigt. Meine Mitschüler*in- nen und ich interessierten uns sehr für die sozialpsychologische Perspektive politischer Bewegungen wie die Ansätze von Horst-Eberhard Richter. Wir began- nen das Engagement für Kinder mit Be- hinderungen und alte blinde, auf Pflege angewiesene Menschen in einem Heim. Jeden Freitag gingen wir dorthin und lernten viel, schlossen ungleiche Freund- schaften, erschlossen uns fremde Lebenswelten und versuchten, etwas buntes Leben in die Institution zu brin- gen, mit Patenschaften, kulturellen An- geboten, Ausflügen und regelmäßigen Theater- und Opernbesuchen – und das in einer zunehmend kritischen Grund- haltung gegenüber Heimen. Als unbezahlte Nachtwache war ich dann zum ersten Mal mit strukturell verankerten Formen von Gewalt gegen ältere Menschen konfrontiert: Mir wurde etwa einfach ein Körbchen voller Sedativa in die Hand gedrückt, die ich „bei Bedarf“ an die Senior*innen hätte verteilen können – zur Ruhigstellung. Wir haben uns dann mit den Pflege- kräften zusammengesetzt, uns fachliche Expertise zugelegt – manche studierten Medizin. Die Beachtung von Menschen- rechten und Öffnung durch Teilhabe wurden unsere Themen. Wir haben ver- sucht, das Haus zu öffnen: Wir machten eine Stadtteilzeitung für die Senior*in- nen, luden die Bürger*innen in das Pflegeheim ein. Gemeinsam mit Studie- renden der Architektur entwickelten wir Baukonzepte, mit denen wir auf einem Nachbargrundstück alternativeWohn- und Versorgungsformen realisieren wollten. Diese Initiativgruppe bestand über zehn Jahre. Über die Arbeit dort wurde ich als Jurastudent zum Dozent für die Altenpflegeausbildung, begann bis dato nicht verfügbares Lehrmaterial über Rechtsfragen zu erstellen, die dann zu Lehrbüchern wurden – heute in 12. Auflage. Es gab zu der Zeit kaum Juristen, die sich mit demThema Pflege und Alter wissenschaftlich beschäftig- ten. So ist meine Auseinandersetzung mit der Gerontologie biografisch ge- prägt. Aber dabei ist es nicht geblieben ... Wie ging es weiter? TK— Ich war schon früh für die Grünen in der Politikberatung unterwegs – spä- ter auch für andere Parteien. Das ist bis heute – auch nach meiner Emeritierung– ein wichtiges Arbeitsfeld, zuletzt bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin. Meine wissenschaftliche Tätigkeit im Be- reich Zivilgesellschaft begann 1996 mit dem Förderprogramm zum bürgerschaft- lichen Engagement in Baden-Württem- berg, das wir seitdem wissenschaftlich begleiten. Meine zivilgesellschaftlichen Forschungsfragen sind wesentlich breiter angelegt: Sie reichen von der Entwicklungszusammenarbeit in Süd- amerika bis zu der im südlichen Afrika, von der Agenda 21 über Nachhaltigkeits- fragen bis zu Bürgerräten, die in der neuen Ampelkoalition verankert wurden. Das weite Feld der zivilgesellschaft- lichen Entwicklung habe ich mit einem eigenen Institut, dem zze, zentriert. Von 2013 bis 2017 war die Geschäftsstelle für den Zweiten Engagementbericht der Bundesregierung im zze angesiedelt. Welche Themen beschäftigen Sie heute am meisten? TK— Gerade beschäftigen uns die aktuellen Polarisierungen in unserer Gesellschaft sehr stark – wie man sie verstehen und was man dagegen tun kann. Wir untersuchen regionale Einflussfaktoren für demokratische Resi- lienz im Auftrag der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Auch die Personalknappheit in der Pflege ist Forschungsgegenstand sowie Fragen derWahrung von Menschenrechten in der häuslichen Pflege. Themen gibt es genug. Aber als Gerontologe kann „Was ich immer zu schätzen wusste, sind die Freiheiten, die ich als Wissen- schaftler hatte.“ „Meine Auseinan- dersetzung mit der Gerontologie ist biografisch geprägt.“ ich natürlich nicht so tun, als würde ich nicht älter (lacht). Es gibt die Themen, die mich weiter beschäftigen und fes- seln – aber jetzt sind auch die jüngeren Generationen gefragt. In den nächsten Jahren werde ich meine beiden Insti- tute in eine neue Rechtsform bringen müssen – wie auch das von meiner ver- storbenen Kollegin Nena Helfferich. Die Institute stehen gut da, brauchen aber eine neue stabile Struktur, die sie dann auch unabhängiger von mir machen. Das klingt auch nach einer persön- lichen Herausforderung ... TK— Die Zeit ist von zumTeil schwieri- gen Dynamiken geprägt: Klimawandel, Erosion von demokratischen Kulturen und Strukturen, demografischemWan- del und Digitalisierung. Für mich besteht die Herausforderung darin, das, was mir wichtig ist und was ich gut kann, nicht einfach sein zu lassen: Es bleibt wichtig und dient vielleicht anderen. Ich darf aber nicht so vermessen sein zu glauben, dass man dieWelt wirklich ändern könnte. Der „Steppenwolf“ lässt grüßen. Und das Leben kennt so viel mehr als nur Forschung und Politik – auch für mich. × Rebekka Sommer ev.olve 1 0 1 1 Thomas Klie
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