Professor Björn Kraus hat 2014 das Format der öffentlichen Wissenschaftsgespräche an der Evangelischen Hochschule Freiburg ins Leben gerufen. Damit hat er eine Plattform geschaffen, um wissenschaftliche Positionen vor und mit Publikum - mit Wissenschaftler *innen, Fachkräften aus der Praxis und Studierenden - zu diskutieren. Erster Gesprächspartner war Professor Hans Thiersch. Einige der Gespräche gibt es als Video.
(re.) Prof. Dr. Björn Kraus, Professor für Wissenschaft Soziale Arbeit, Evangelische Hochschule Freiburg; (li.) Prof. Dr. Dr. h.c. mult. em. Hans Thiersch, Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik, Tübingen
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Freiburger Wissenschaftsgespräche im Video
News und Materialien 2014 – 2022
Ob es ein Recht auf die eigene Wahrheit geben könne und wie Soziale Arbeit darauf reagieren solle, war Thema der Wissenschaftsgespräche 2022. Im Jahr 2018 ging es grundsätzlich um den normativen Gehalt der jeweiligen Zugänge und insbesondere um die Frage nach der normativen Fundierung einer Relationalen Sozialen Arbeit. Damit nahmen die Wissenschaftler auch ihre Diskussionen zur Wahrheit im Jahr 2017 und zur Normativität im Jahr 2016 auf. 2014 setzten sich Kraus und Thiersch mit der Relevanz lebensweltlicher Orientierung(en) für die Professionalisierung Sozialer Arbeit auseinander.
- Björn Kraus und Hans Thiersch diskutieren Recht auf die eigene Wahrheit, News 10/2022
- Meine Wahrheit, deine Wahrheit: Wie soll Soziale Arbeit darauf reagieren? Eventinfo 03.06.2022
Im Juni 2022 fanden Wissenschaftsgespräche ausnahmsweise nur hochschulöffentlich statt. Sie sind aufgezeichnet worden und werden nach Bearbeitung hier online gesetzt.
News und Videos 27.06.2018 - Das Verhältnis von Lebensweltorientierung und einer Relationalen Sozialen Arbeit zu einer kritischen Sozialen Arbeit
Die Professoren Hans Thiersch und Björn Kraus haben 2018 in einem öffentlichen Wissenschaftsgespräch das Verhältnis von Lebensweltorientierung und einer Relationalen Sozialen Arbeit zu einer kritischen Sozialen Arbeit diskutiert. Kraus führt seit 2014 die Reihe der Freiburger Wissenschaftsgespräche an der Hochschule durch; einige der Gespräche gibt es als Videocast.
Bei dem Wissenschaftsgespräch 2018 ging es insbesondere um den normativen Gehalt der jeweiligen Zugänge, womit die Referenten auch anschlossen an ihre Diskussionen zur Normativität im Jahr 2016 und zur Wahrheit im Jahr 2017. Björn Kraus verdeutlichte das kritische Potential einer Relationalen Sozialen Arbeit (Video): „Der Fokus der Sozialen Arbeit kann weder auf die Individuen, noch auf deren Umwelt beschränkt werden, sondern es müssen sowohl die konstruierenden Subjekte, als auch deren relationale Konstruktionsbedingungen in den Blick genommen werden.“ Daran schloss Hans Thiersch an und stellte heraus, dass auch die Lebensweltorientierung nicht nur Individuen, sondern auch deren Verhältnisse kritisch in den Blick nimmt. „Soziale Arbeit hat eine Doppelrolle und agiert im Horizont von Kritik und Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse“. Es gehe aber nicht nur um Kritik, sondern auch „um die Unterstützung bei der Gestaltung eines aushaltbaren Lebens im Horizont von Gerechtigkeit, Solidarität und Autonomie“.
Beide Wissenschaftler betonten sowohl die Notwendigkeit einer kritischen Perspektive und Haltung, die aber nicht nur gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern auch gegenüber der Kritik einzunehmen sei. Auf den Punkt gebracht: Eine kritische Soziale Arbeit sei wichtig und möglich – Aber: 1. müsse auch die Kritik kritisch hinterfragt werden und 2. könne Soziale Arbeit nicht auf das Leisten von Kritik beschränkt werden. Kraus:“ Es reicht also weder aus, unreflektiert mittels Hilfe ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse zu stabilisieren, noch nur die Verhältnisse zu kritisieren und etwa auf Unterstützung bei der Alltagsbewälltigung zu verzichten. In vielerlei Hinsicht geht es eben auch um Hilfe unter Protest oder eben um Hilfe und Kritik.“
Videos zu Wissenschaftsgesprächen
- Videos zum Wissenschaftsgespräch von 2018 „Relationale Soziale Arbeit, Lebensweltorientierung und die Frage nach der Normativität einer kritischen Sozialen Arbeit“ und früheren Gesprächen
News 06.07.2017 - Relationaler Konstruktivismus, Lebensweltorientierung und die Frage nach der Wahrheit
Ist Lebensweltorientierung naiv sozialromantisch und lässt sie dabei die „tatsächlichen“ sozialen und materialen Bedingungen unangemessen außer Acht? Wie viel Wahrheit ist möglich und wie viel Wahrheit ist angemessen? Hans Thiersch und Björn Kraus diskutierten zu dieser komplexen Fragestellung im Juni 2017 vor und mit Studierenden und Gästen der Evangelischen Hochschule Freiburg.
Mit dem Format der öffentlichen Wissenschaftsgespräche haben Kraus, Professor für Wissenschaft Soziale Arbeit, und Thiersch, Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik, bereits 2014 an der Evangelischen Hochschule begonnen. Es bietet eine Plattform, wissenschaftliche Positionen vor und mit Publikum – mit Wissenschaftler*innen, Fachkräften aus der Praxis und Studierenden – zu diskutieren.
Björn Kraus setzte sich zunächst aus der Perspektive seines Relationalen Konstruktivismus mit den Vorwürfen auseinander, die bezüglich der Möglichkeit von Wahrheit gegenüber konstruktivistischen Positionen formuliert werden. Der Kritik, konstruktivistische Positionen würden die Beliebigkeit kognitiver Konstruktionen betonen, begegnete er mit seinem relational-konstruktivistischen Lebensweltverständnis. Kraus betonte, „dass die Lebenswelt eines Menschen zwar das Ergebnis subjektiver Konstruktionsprozesse ist, dieses Ergebnis aber nicht in einem ‚luftleeren Raum‘, sondern unter den jeweiligen sozialen und materiellen Bedingungen Bestand haben muss.“*
Der Konstruktivismus sei nicht blind für die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Zu unterscheiden sei zwischen „Lüge als einer Aussage, die dem eigenen für wahr halten widerspricht“ und verschiedenen theoretischen Konzepten von Wahrheit, führte Kraus aus. In der Diskussion der Korrespondenztheorie, der Konsenstheorie und der Kohärenztheorie der Wahrheit verdeutlichte er, dass „konstruktivistisch zwar ein absolutes Wahrheitsverständnis bestritten wird, gleichwohl die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge möglich ist“.
Hans Thiersch schloss sich diesen Ausführungen an. Er diskutierte aus seiner Perspektive einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit die „Risiken und Nebenwirkungen“ von zu wenig, aber vor allem von zu viel Wahrheit: „Ab wann ist Wahrheit eine unangemessene, übergriffige und weder moralisch noch fachlich begründete Zumutung?“ Er sprach sich gegen eine für die Soziale Arbeit untaugliche Forderung nach unbedingter Wahrheit aus.
Historisch verwies er darauf, dass zwar schon in der Antike ein Anspruch auf Wahrhaftigkeit formuliert worden sei, dieser aber mit Hilfsklauseln versehen war. Es waren Überlebenstaktiken des Ausweichens bekannt, die dann von Augustinus und von Kant unter dem Primat einer unbedingten Wahrhaftigkeit zur Seite geräumt und als Verfehlung denunziert wurden. Dem hielt Thiersch entgegen: „Seit der Antike steht gegen das Postulat der Wahrhaftigkeit der Einspruch der praktischen Philosophie, der unbedingte Wahrheitsanspruch verkenne die menschlichen Verhältnisse, er überfordere sie in ihrer konkreten Bedingtheit.“**
Davon ausgehend diskutierte er sowohl die Risiken fehlender Wahrhaftigkeit, als auch den Nutzen von Lügen etwa zur Alltagsbewältigung, als Stigmamanagement, als soziale Funktionalität und als Selbst- und Fremdschutz.
In der anschließenden Diskussion waren sich die beiden Wissenschaftler darin einig, dass für eine professionelle Praxis die Auseinandersetzung mit den Kategorien Lüge und Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Falschheit erforderlich ist. Diesbezüglich sei zunächst die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung unumgänglich, um überhaupt entscheiden zu können, welches Verständnis von Wahrheit und Falschheit überhaupt als möglich gälte. An diese Reflexion des „Könnens“ müsse aber notwendig die fachliche Reflexion des „Sollens“ anschließen, so Kraus und Thiersch.
Ein Primat der „Wahrhaftigkeit um jeden Preis“ lehnten Hans Thiersch und Björn Kraus ab. Denn zum einen lasse sich mündiges und freies Leben nicht nur im Rahmen unbedingter Wahrhaftigkeit realisieren. Zum anderen sei zu fragen, wie viel Unwahrhaftigkeit für den Einzelnen und für soziale Systeme mit dem Ziel gelingenderen Alltags und eines guten Lebens notwendig ist. Fachlich im Blick zu halten sei dabei das Spannungsfeld zwischen der Akzeptanz individueller Balancen von Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit sowie dem Widerstand gegenüber Tendenzen, die hieraus den Verzicht auf Unterstützung, Aufklärung und Perspektivenerweiterung ableiten.
* Kraus, Björn 2017: Plädoyer für den Relationalen Konstruktivismus und eine Relationale Soziale Arbeit. (Forum Sozial, 1/2017), http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/51948
** Thiersch, Hans 2015: Unerkannt lassen – Gefahren und Grenzen von Aufdeckungsarbeit in der Beratung. In: Thiersch (Hg.) Soziale Arbeit und Lebensweltorientierung. Beltz/Juventa. S. 324-342
News 27.05.2016 - Das Problem der Normativität in der Sozialen Arbeit zwischen Wissenschaft und Praxis
Das Problem der Normativität in der Sozialen Arbeit zwischen Wissenschaft und Praxis war am 27. Mai 2016 Gegenstand einer Diskussion von Hans Thiersch und Björn Kraus. Kraus, Professor für Wissenschaft Soziale Arbeit, hat damit das 2014 begonnene und sehr gut angenommene Diskussionsformat zu Fragen der Sozialen Arbeit mit Hans Thiersch, Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik, an der Evangelischen Hochschule Freiburg weiter geführt.
Videos einiger Wissenschaftsgespräche stehen auf Youtube zur Verfügung.
News Dezember und Videos 2014 - Zwei Perspektiven: Hans Thiersch und Björn Kraus diskutieren über Lebensweltliche Orientierung
Lebensweltorientierung ist in der Fachwelt der Sozialen Arbeit ein zentrales Paradigma vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe. Der Begriff wurde von Hans Thiersch wesentlich in der Sozialen Arbeit eingeführt. Björn Kraus hat ihn konkretisiert und disziplinübergreifend neu definiert. Beide haben sich in Freiburg zu einer öffentlichen Diskussion getroffen.
Hans Thiersch hat das Paradigma der Lebensweltorientierung maßgeblich in den Diskursen der Sozialen Arbeit geprägt. Basierend auf sozialphänomenologischen, hermeneutisch-pragmatischen und kritischen Alltagskonzepten zielt er vor allem auf die Hinwendung zum Alltag der Adressat_innen. Björn Kraus hingegen nähert sich dem Paradigma der Lebensweltorientierung aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive und wirft in erster Linie die Frage auf, ob die Orientierung an der Lebenswelt überhaupt möglich und legitim sein kann.
Hans Thiersch und Björn Kraus diskutierten im Dezember 2014 mit rund 230 Gästen – davon 150 Studierende der Evangelischen Hochschule – die Relevanz lebensweltlicher Orientierung(en) für die Professionalisierung Sozialer Arbeit. Moderiert wurde die Veranstaltung von Heiko Hoffmann.
In seinem Referat plädierte Thiersch für ein alternatives Verständnis von Professionalität. Man solle sich nicht expertokratisch von den Menschen abgrenzen, auf die sich die Soziale Arbeit richten würde, erklärte er. Stattdessen müsse man sich konsequent der Lebenswelt als erfahrener und verstandener Welt zuwenden. Kraus stimmte dem grundlegend zu. Doch mahnte er – ausgehend von seinem systemisch-konstruktivistischen Lebensweltbegriff – Bescheidenheit an. Denn auch die Reichweite des professionellen Verständnisses fremder Lebenswelten sei beschränkt. Auch insistierte Kraus auf der Unterscheidung von Lebenswelt und Lebenslage unter Beachtung ihrer strukturellen Koppelung. Dagegen betonte Thiersch, dass beide Bereiche in der Erfahrung, Aneignung und Gestaltung des Alltags zusammenfallen und eine Trennung nur noch analytisch möglich sei.
Nach den Vorträgen von Thiersch und Kraus erläuterten Studierendengruppen der Sozialen Arbeit (der EH Freiburg) ihre Positionen. Sie kritisierten an Thierschs Ansatz die Normativität, mit der die Notwendigkeit zur „Destruktion bornierter Routinen“ begründet werde. Dagegen sei der erkenntnistheoretische Ansatz von Kraus auf normativer Ebene abstrakt und unbestimmt. Für die Studierenden stellte sich die Frage, wie die theoretischen Arbeiten praktisch zum Tragen kommen würden. Björn Kraus sieht die Antwort u.a. in der „Verinnerlichung einer Haltung, die zum Respekt vor dem subjektiven Eigensinn der Adressat_innen auffordere und zur kritischen Reflexion der Grenzen und Möglichkeiten verstehender Zugänge“. Mit Blick auf sein Lebenswerk führte Hans Thiersch aus, dass er heute „wohl der Kasuistik einen größeren Stellenwert einräumen würde, um Theorie mit Fallbezug zur Anwendung zu bringen“.
Bildergalerie
(alle Fotos 1. Galerie: Marc Doradzillo, 2. Galerie: Fionn Grosse)