Ein Gespräch mit Prof. Dr. habil. Thomas Klie
33 Jahre lang war er Professor für Rechts- und Verwaltungswissenschaften sowie Gerontologie an der EH Freiburg – im Oktober letzten Jahres wurde Thomas Klie in den Ruhestand verabschiedet. Wie sieht er seinen wissenschaftlichen Werdegang im Rückblick? Und was rät er Nachwuchswissenschaftler*innen?
Herr Klie, was zeichnet eine echte Forscherpersönlichkeit aus? Man spricht ja heute gern von Entrepreneurship, also von der Fähigkeit zu unternehmerischem Denken und Handeln. Das hat meine Generation, die an der Evangelischen Hochschule Freiburg erstmals Forschung betrieben hat, ausgezeichnet: Wir haben jenseits unseres Dienstauftrags und mit einer hohen Risikobereitschaft den Forschungsverbund FIVE e. V. gegründet. Die Grundlage dafür waren immer eigene Ideen und Visionen – und eine persönliche Leidenschaft für bestimmte Anliegen oder Themen: sei es die Armuts- und Sozialraum bezogene Forschung von Konrad Maier, die Kinder- und Jugendforschung von Klaus Fröhlich-Gildhoff, die Familien- und Geschlechterforschung von Nena Helfferich oder meine eigene Forschung zu Gerontologie, Pflege und Zivilgesellschaft.
Wie hat sich das bei Ihnen entwickelt? Ich bin 1988 an die EH Freiburg gekommen und bekam erst mal kleinere Forschungsanfragen aus der kommunalen Sozialplanung, die sich um Fragen des Alterns drehten. Das entwickelte sich dann schnell in Richtung eines eigenen Forschungsschwerpunkts, zunächst im Bereich der Gerontologie und Pflege. Wir wurden immer größer – sowohl die Hochschule, als auch meine Forschungsbereiche. Zu Hochzeiten hatten wir 24 Mitarbeiter*innen und der Platz reichte einfach nicht mehr aus. Also beschlossen die Professorin Nena Helfferich und ich, mit eigenen Mitteln auf dem Dach der Hochschule unseren Forschungspavillon zu bauen. Dieses unternehmerische Denken und auch den Managementaspekt darf man bei der Forschung nicht unterschätzen. Nur so konnte FIVE seine Eigendynamik entfalten und erfolgreiche Forschungslinien entwickeln, für die FIVE und die Hochschule schließlich bundesweit bekannt geworden sind. Es entstanden Strukturen, die nicht allein an einzelnen Personen hängen, wie es an Hochschulen und Universitäten oft der Fall ist, sondern die über die Zeit stabil gehalten werden konnten.
Was ich immer zu schätzen wusste, sind die Freiheiten, die ich als Wissenschaftler hatte.
Zu einem Forschungsinstitut gehört immer auch die Nachwuchsförderung. Was müssen Nachwuchswissenschaftler*innen mitbringen, um von Ihnen gefördert zu werden? Wir hatten über die gesamte Zeit bis heute in den Instituten AGP Sozialforschung, AGP steht für Alter, Gesellschaft und Partizipation und dem Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze) über hundert Mitarbeiter*innen. Da ist es ein selbstverständlicher Teil der Personalentwicklung, Interessen und Begabungen zu erkennen und Entwicklungsperspektiven zu schaffen. Das betrifft übrigens nicht nur den Nachwuchs. Viele Kolleg*innen haben als erfahrene Forscher*innen eine hohe intrinsische Motivation und sagen:„Dieses oder jenes Thema interessiert mich, da will ich dran arbeiten!“ Eine wichtige Perspektive, die wir in unterschiedlichen Forschungsfeldern anbieten konnten und können, sind Graduiertenkollegs, an denen wir mitgearbeitet haben. Das ist eine wichtige Form der Nachwuchsförderung, um Promotionsanliegen einen Ort und Förderungzu bieten.
Sie haben 33 Jahre lang an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) geforscht und gelehrt. Was unterscheidet die HAW-Wissenschaftler*innen von ihren Kolleg*innen an der Uni? Die wenigsten Studierenden haben zu Beginn ihres Studiums die HAW als Institutionen der Forschung präsent. Meine Erfahrung ist, dass gerade viele HAW-Absolvent*innen die Wissenschaft und Forschung für sich als – zunächst nicht für möglich gehaltene – sehr befriedigende berufliche Perspektive entdecken. Durch den kirchlichen Träger haben wir an Hochschulen wie der EH Freiburg viele religiös orientierte junge Menschen, die praxis- und wertorientiert Zugang zu wissenschaftlichen Fragestellungen finden. An Hochschulen für Angewandte Wissenschaften studieren viele junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie in Richtung Akademisierung gehen. Schon das Studium lässt sich als sozialer Aufstieg beschreiben. Finden sie dann noch den Weg in die Wissenschaft, hat das viel mit Nachwuchsförderung aus eher bildungsfernen Milieus zu tun.
An Hochschulen für Angewandte Wissenschaften studieren viele junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie in Richtung Akademisierung gehen. Schon das Studium lässt sich als sozialer Aufstieg beschreiben.
Was hätten Sie gemacht, wenn Sie nicht in die Wissenschaft gegangen wären? Ich wollte zunächst nicht in die Forschung und hatte als Jurist viele andere Optionen. Während meiner Hochschulzeit hatte ich zahlreiche Anfragen aus Bundes- und Landesministerien, entschied mich aber vor allem aus familiären Gründen, in Freiburg zu bleiben. Politikberatung und -gestaltung hat mich stets gereizt und auch meine Forschungstätigkeit geprägt. Was ich immer zu schätzen wusste, sind die Freiheiten, die ich als Wissenschaftler hatte. Die hätte ich in einem Ministerium so nicht mehr gehabt.
Was hat Sie zur Gerontologie gebracht? Ich habe mich bereits in meiner Schulzeit in Hamburg mit sozialen Fragen beschäftigt. Meine Mitschüler*innen und ich interessierten uns sehr für die sozialpsychologische Perspektive politischer Bewegungen wie die Ansätze von Horst-Eberhard Richter. Wir begannen das Engagement für Kinder mit Behinderungen und alte blinde, auf Pflege angewiesene Menschen in einem Heim. Jeden Freitag gingen wir dorthin und lernten viel, schlossen ungleiche Freundschaften, erschlossen uns fremde Lebenswelten und versuchten, etwas buntes Leben in die Institution zu bringen, mit Patenschaften, kulturellen Angeboten, Ausflügen und regelmäßigen Theater- und Opernbesuchen – und das in einer zunehmend kritischen Grundhaltung gegenüber Heimen. Als unbezahlte Nachtwache war ich dann zum ersten Mal mit strukturell verankerten Formen von Gewalt gegen ältere Menschen konfrontiert: Mir wurde etwa einfach ein Körbchen voller Sedativa in die Hand gedrückt, die ich „bei Bedarf“ an die Senior*innen hätte verteilen können – zur Ruhigstellung. Wir haben uns dann mit den Pflegekräften zusammengesetzt, uns fachliche Expertise zugelegt – manche studierten Medizin. Die Beachtung von Menschenrechten und Öffnung durch Teilhabe wurden unsere Themen. Wir haben versucht, das Haus zu öffnen: Wir machten eine Stadtteilzeitung für die Senior*innen, luden die Bürger*innen in das Pflegeheim ein. Gemeinsam mit Studierenden der Architektur entwickelten wir Baukonzepte, mit denen wir auf einem Nachbargrundstück alternative Wohn- und Versorgungsformen realisieren wollten. Diese Initiativgruppe bestand über zehn Jahre. Über die Arbeit dort wurde ich als Jurastudent zum Dozent für die Altenpflegeausbildung, begann bis dato nicht verfügbares Lehrmaterial über Rechtsfragen zu erstellen, die dann zu Lehrbüchern wurden – heute in 12. Auflage. Es gab zu der Zeit kaum Juristen, die sich mit dem Thema Pflege und Alter wissenschaftlich beschäftigten. So ist meine Auseinandersetzung mit der Gerontologie biografisch geprägt. Aber dabei ist es nicht geblieben.
Wie ging es weiter? Ich war schon früh für die Grünen in der Politikberatung unterwegs – später auch für andere Parteien. Das ist bis heute – auch nach meiner Emeritierung – ein wichtiges Arbeitsfeld, zuletzt bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin. Meine wissenschaftliche Tätigkeit im Bereich Zivilgesellschaft begann 1996 mit dem Förderprogramm zum bürgerschaftlichen Engagement in Baden-Württemberg, das wir seitdem wissenschaftlich begleiten. Meine zivilgesellschaftlichen Forschungsfragen sind wesentlich breiter angelegt: Sie reichen von der Entwicklungszusammenarbeit in Südamerika bis zu der im südlichen Afrika, von der Agenda 21 über Nachhaltigkeitsfragen bis zu Bürgerräten, die in der neuen Ampelkoalition verankert wurden. Das weite Feld der zivilgesellschaftlichen Entwicklung habe ich mit einem eigenen Institut, dem zze, zentriert. Von 2013 bis 2017 war die Geschäftsstelle für den Zweiten Engagementbericht der Bundesregierung im zze angesiedelt.
Welche Themen beschäftigen Sie heute am meisten? Gerade beschäftigen uns die aktuellen Polarisierungen in unserer Gesellschaft sehr stark – wie man sie verstehen und was man dagegen tun kann. Wir untersuchen regionale Einflussfaktoren für demokratische Resilienz im Auftrag der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Auch die Personalknappheit in der Pflege ist Forschungsgegenstand sowie Fragen der Wahrung von Menschenrechten in der häuslichen Pflege. Themen gibt es genug. Aber als Gerontologe kann ich natürlich nicht so tun, als würde ich nicht älter (lacht). Es gibt die Themen, die mich weiter beschäftigen und fesseln– aber jetzt sind auch die jüngeren Generationen gefragt. In den nächsten Jahren werde ich meine beiden Institute in eine neue Rechtsform bringen müssen – wie auch das von meiner verstorbenen Kollegin Nena Helfferich. Die Institute stehen gut da, brauchen aber eine neue stabile Struktur, die sie dann auch unabhängiger von mir machen.
Für mich besteht die Herausforderung darin, das, was mir wichtig ist und was ich gut kann, nicht einfach sein zu lassen: Es bleibt wichtig und dient vielleicht anderen.
Das klingt auch nach einer persönlichen Herausforderung … Die Zeit ist von zum Teil schwierigen Dynamiken geprägt: Klimawandel, Erosion von demokratischen Kulturen und Strukturen, demografischem Wandel und Digitalisierung. Für mich besteht die Herausforderung darin, das, was mir wichtig ist und was ich gut kann, nicht einfach sein zu lassen: Es bleibt wichtig und dient vielleicht anderen. Ich darf aber nicht so vermessen sein zu glauben, dass man die Welt wirklich ändern könnte. Der „Steppenwolf“ lässt grüßen. Und das Leben kennt so viel mehr als nur Forschung und Politik – auch für mich.
(Interview: Rebekka Sommer)
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