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Achtsamkeit in Zeiten von Corona

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Prof.in Dr.in Dorothee Gutknecht; Foto: Gudrun de Maddalena, Tübingen

Achtsamkeitspraxis und Mitgefühl sind die zentrale Basis für die professionelle Arbeit in helfenden und bildenden Berufen. Prof.in Dr.in Dorothee Gutknecht: „Dies belegen insbesondere Forschungsergebnisse aus den Sozialen Neurowissenschaften von Tania Singer und Matthias Bolz“. Die Professorin für Kindheitspädagogik stellt im Rahmen von Lehrveranstaltungen regelmäßig praktische Übungen zur achtsamkeitsbasierten Pädagogik vor.

Achtsamkeit in Zeiten von Corona durch persönliche Begegnung zu erleben, war für die Studierenden der Evangelischen Hochschule im Sommersemester 2020 nicht möglich. Professorin Gutknecht entwickelte daher neue Formate für das Seminar zu Achtsamkeit. Diese werden jetzt zum Lehrforschungsprojekt weiterentwickelt. Eine Gruppe von 22 Studierenden des 6. Semesters im Bachelor-Studiengang Pädagogik der Kindheit nahm an dem Seminar mit neuen Formaten teil – jede*r im Homeoffice.

Üblicherweise finden im Rahmen des Seminars „Interventionen und Fördermöglichkeiten in der Kita bei Kindern mit Lern-, Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten“ im Sinne einer achtsamkeitsbasierten Pädagogik immer praktische Übungen in der Präsenzlehre statt. Diese Übungen werden theoretisch reflektiert. Hierzu gehören achtsames Sitzen, Essen, Gehen, Atmen und sanfte Körperübungen.

Im neu entwickelten Seminar wurde die Achtsamkeitspraxis deutlich stärker an den so genannten Fernsinnen, dem Hören und Sehen orientiert, weniger an den Nahsinnen, die achtsam berühren oder achtsam essen einschließen können. Filme und Bilder, Musik und Naturgeräusche, die Gutknecht online zur Verfügung stellte, waren wichtige Brücken zu den Studierenden. Im Sinne eines „Responding to the day“ gab es viele intensive und reflexive nachdenkliche Begegnungen, die schriftlich in einem gesonderten Forum der Lehr- und Lernplattform ILIAS der EH Freiburg kommuniziert wurden.

Zentrale Ausgangspunkte für die Achtsamkeitsübungen waren zunächst zwei Filme. Ein Film stellte das Projekt „Mindfulness in the Early Grades“ des Erikson Instituts, Chicago vor. Darin werden Wege und Tools zur Achtsamkeitspraxis mit Kindern präsentiert. Ein weiterer Film war „Just Breathe“ von Julie Bayer-Salzmann und Josh Salzmann, in dem Kinder ihre Emotionen beschreiben und Wege zeigen, diese über ihre Atmung zu regulieren.

Gutknecht: „Im Rahmen meines Forschungsaufenthalts im Februar/März 2020 in Budapest im Loczy, dem Institut der Pikler Säuglings- und Kleinkindpädagogik, habe ich mich intensiv mit einem besonderen Strang des so genannten „westlichen Achtsamkeitsweges“ befasst.

Darunter werden Ansätze verstanden, die ihren Ursprung in der Körperkulturbewegung des 20. Jahrhunderts haben. Herausragende Vertreter*innen sind Gindler, Jacoby & Selvers, Schlaffhorst & Andersen, Glaser und Fuchs.  Zentral in diesen Konzeptionen ist neben dem gegenwärtigen Moment die hohe Bedeutung der Atmung, der Alltagsbewegungen, der Auseinandersetzung mit der Schwerkraft, dem Widerstand des Bodens.

Eine Begegnung zwischen östlichen und westlichen Zugängen zur Achtsamkeit stand im Mittelpunkt der Achtsamkeitsreise des Sommersemesters. Gutknecht, die selbst Atemtherapeutin ist: „Die Studierenden haben sich in großer Tiefe auf die Übungen eingelassen, ausprobiert und Freude und Schmerz, die unvermeidlich auftauchen, in der Gruppe und mit mir als der Seminarleitung geteilt. Die Belastung durch Corona wurde hier immer wieder als großer Stressor deutlich. Es wurden aber auch die Möglichkeiten identifiziert, über Begegnungen mit Schönheit über Bilder und Filme, wie zum Beispiel Zeitrafferaufnahmen von der Entfaltung von Blumenblüten, die Erfahrung von Ruhe, in Achtsamkeitspraxis wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen, herunterzukommen.“

Die Studierenden haben in tiefgehenden schriftlichen Reflexionen außerordentlich hochwertig ihre Erfahrungen mit diesem Zugang dokumentiert. Sie haben den eigenen Stress sichtbar gemacht, das so genannte „Mind-wandering“, bei dem die Gedanken nicht zur Ruhe kommen können und immer wieder abschweifen. Sie haben aber auch die Erholung durch die Atmung, durch das Fokussieren, herausgearbeitet. „Nur wer mit sich selbst in Berührung, in Kontakt ist, kann andere berühren, kann Kinder angemessen begleiten“, so Gutknecht.

Sehr berührt waren die Studierenden auch von dem Film „Schule der Achtsamkeit – Säkulare Bewusstseinskultur in Europa“ von Anja Krug Metzinger. Der 2017 prämierte Film wurde von dem Philosophen Professor Thomas Metzinger, Gutenberg Forschungskolleg Mainz, wissenschaftlich begleitet. Es wird in poetisch-philosophischer Weise die Achtsamkeitsthematik aufgegriffen und über eine junge Mädchenstimme gerahmt – verbunden zu Beginn und Ende mit einer an das Höhlengleichnis anklingenden Bildsprache, in der Schatten eine wichtige Rolle spielen.

Gutknecht: „Das Projekt wird im Wintersemester 2020/2021 weitergeführt und soll durch ein audio-visuelles Element im Sinne von „Story Telling Voices“ angereichert werden und so auch eine Internationalisierung erfahren.“ Dabei begegnen sich im digitalen Raum Stimmen von Forschenden und Praktiker*innen aus unterschiedlichen Ländern, sowie von Studierenden der Evangelischen Hochschule Freiburg über Interviews und gesprochene Reflexionen.

(Foto: Symbolbild zum Thema Naturgeräusche; Wasserfall: J. Gudeljevic)

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